Die Vorgänge um die Herausbildung des Staates waren Gegenstand langer Diskussionen innerhalb einer Arbeitsgruppe zum Thema Staatsfunktionen. Besonders bei der Frage, wie es zur Sklaverei kam, wurden mir die Schwierigkeiten deutlich, die gerade marxistisch versierte Kommilitonen hatten, wenn sie die theoretische Forderung, "die Dinge historisch zu betrachten", auf die Praxis anwenden wollten; dies bedingt in erster Linie durch die mangelnden Kenntnisse bestimmter historischer Prozesse, die auch mir schmerzlich bewußt wurden.
lm Wesentlichen kommt es mir nun darauf an, die Entstehung des Staates und seiner Funktionen möglichst plastisch zu beschreiben und gewisse Kausalzusammenhänge zu erläutern. Das große Problem der Vorgehensweise liegt m. E. darin, sich weder in Einzelfragen zu verlieren, noch der notwendigen Kritik des eigenen sowie anderer Standpunkte aus dem Wege zu gehen, andererseits die Infragestellung des eigenen "Bodens" bzw. die Erläuterung wichtiger Grundannahmen nicht soweit zu treiben, daß die Zielsetzung gefährdet würde.
Somit versteht sich die Arbeit weder als Wiedergabe einer bestimmten Lehrmeinung, noch wird durch sie der Anspruch erhoben, eine eigene Theorie zu begründen. Ersteres wäre den Umfang nicht wert, letzteres in diesem Rahmen schwerlich möglich und auch meinem Wissensstand nicht angemessen. Angestrebt wird eine Darstellung der Materie soweit sie mir nach der Lektüre zumeist marxistischer Staatstheoretiker im Vergleich zu Ergebnissen der ethnologischen Forschung zugänglich ist. Dabei will ich versuchen, einige Begründungsschritte der "Klassiker" durch eigene Formulierungen zu ersetzen.
Mit dem Wort Urgesellschaft möchte ich im folgenden alle Formen vorstaatlichen Zusammenlebens bezeichnen. Dabei definiere ich den Staat als das bereits zum Instrument der Ausbeuterklasse entwickelte Organ der Macht über Menschen. Der "Urkommunismus", d.h. das, was gemeinhin als typisch für Urgesellschaft schlechthin angesehen wird (kollektive Produktion, kollektives Eigentum an den Rohstoffen und kollektiver Nutzung sowohl der Produkte als auch der Natur), ist nur die früheste Entwicklungsphase dieser Urgemeinschaft. Der Beginn dieser "ursprünglichsten", wahrhaft primitiven Gesellschaftsform fällt mit der Menschwerdung selbst zusammen. Ihr Ende war bereits in der mittleren Altsteinzeit gekommen (jedenfalls sind aus dieser Zeit Bestattungen und Grabbeigaben bekannt - Dinge, die eine gestiegenen Leistungsfähigkeit und Differenzierung der Gemeinschaft wahrscheinlich machen).
Die nächsten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung können unter der Bezeichnung Stammesgesellschaft zusammengefaßt werden. Will man über diese Stufen Aussagen machen, wird man von einer Flut an Material geradezu erdrückt. Denn: Im Gegensatz zur Frühphase, haben sich einzelne Gesellschaften dieses Typs zum Teil bis in die Gegenwart hinein erhalten; anstelle spekulativer Betrachtung archäologischer Funde treten Beobachtungen zahlreicher Völkerkundler. Um das Dilemma an zwei geographisch "benachbarten" Kulturen zu verdeutlichen:
Bei den Eskimos gibt es kein eigentliches Stammesgefüge, soziale Einheit ist die Kleinfamilie. "Mehrere solcher Familien, oft durch Blutsbande verknüpft, bilden eine Wirtschafts- und Jagdgemeinschaft, die Horde. Die Zugehörigkeit der einzelnen Familie zur Horde ist freiwillig; sie gründet sich vor allem auf die Jagdkameradschaft der betreffenden Männer (G. A. Konitzky: Arktische Jäger, Stuttgart 1961, S. 15)." Aber:
"Jeder Stamm war in eine Anzahl Horden unterteilt... Innerhalb der Herden stellten die Familien die kleinste selbständige Einheit dar. Mehrere Familien bildeten einen Clan. Die Zugehörigkeit zu einem Clan war absolut und nicht der Entscheidung des einzelnen überlassen... Neben Horden- und Clangruppierungen kannten einzelne Stämme auch noch Phratrien, die meist aus mehreren Clans gebildet waren (Derselbe: Bisonjäger, Stuttgart 1959, S. 28)."
Aus solchen Unterschieden zwischen Gesellschaften gleicher Entwicklungsstufe ist auf die Unrichtigkeit des morgan-engelsschen Ansatzes für eine Periodisierung der Urgeschichte geschlossen worden. Übersehen wurde dabei, daß Engels nie bestritten hat, daß jede Gesellschaft historisch geworden ist und daher unverwechselbar eigenes Gepräge aufweist. Er versuchte aber, über alle Unterschiede hinweg die grundlegenden Gemeinsamkeiten zu erkennen und dadurch letztlich auch die Verschiedenheiten materialistisch zu erklären.
Die mittleren und späten Phasen der Urgesellschaft weisen alle mehr oder minder starke blutsverwandtschaftliche Bindungen auf, der einzelne tritt neben das Kollektiv (Entstehung individuellen Eigentums zunächst nur an Gegenständen des persönlichen Gebrauchs, später auch an bestimmten Produktionsmitteln), arbeitsteilige Strukturen werden sichtbar und schließlich treten erste Vermögens- und Machtungleichheiten auf. Letztere haben aber noch keine grundlegenden Änderungen im Zusammenleben zur Folge - eine von der Gesellschaft losgelöste Instanz existiert noch nicht.
Als letzte Form der Urgesellschaft folgt eine Zerfallsperiode, innerhalb derer das Organisationsprinzip Blutsverwandtschaft vom Territorialprinzip abgelöst wird und die zunehmenden Unterschiede in der Distributionssphäre die Entstehung von Klassen und damit die Notwendigkeit staatlichen Schutzes einleiten. Sie bildet den Übergang zur Klassengesellschaft.
"In der Urzeit gab es noch keine sittlichen und gesellschaftlichen Ordnungen. Die Menschen kannten nur ihre Mutter, nicht ihren Vater. Hungrig suchten sie nach Nahrung, gesättigt warfen sie die Reste Weg. Sie fraßen ihre Nahrung mit Haut und Haaren und tranken das Blut und hüllten sich in Felle und Schilf (R. Wilhelm [Übers.]: I Ging, Düsseldorf/Köln 1970, S. 304)."
Aus diesem altchinesischen Zitat spricht der Stolz auf das Erreichte sowohl wie die Abgrenzung gegenüber den Barbaren. Recht und Ordnung, Patriarchat, Vorratshaltung und feine Manieren werden als Ausdruck von Kultur und Fortschritt gewertet. Auch die abendländische Geschichtsforschung kennt die Zweiteilung der Welt in Wilde und Zivilisierte, Natur- und Kulturvölker, später dann "Nur"kultur- und Hochkulturvölker. Wann aber gilt eine bestimmte Gesellschaft als Hochkultur - welches Kriterium sollen wir wählen? Greifen Wir auf das Zitat zurück. Das Begriffspaar Sitte und Ordnung hat nur unter solchen Bedingungen einen Sinn, wo ihr Bestand nicht selbstverständlich ist. Gefährdet ist die "Sittlichkeit" aber nur dort, wo sie nicht Ausdruck gesamtgesellschaftlichen Interesses ist. Wo aber Sonderinteressen verteidigt werden müssen, da finden wir den Staat. Jener alte Chinese meinte also: "In der Urgesellschaft gab es noch keine rechtliche und staatliche Ordnung." Er trennte somit zwischen vorstaatlichen und staatlich verfaßten Gesellschaften. Dieser Vorgehensweise würde ich mich anschließen. Hochkultur heißt also nicht "höhere Kultur", sondern einfach "es existiert bereits ein Staat".
Dieser Staat nun hat als wichtigste Aufgabe, sich selbst zu erhalten, zum zweiten aber auch, die Gesellschaft zu erhalten, wobei in der Praxis beide Aufgaben zusammenfallen, in der vom Staat selbst produzierten Ideologie jedoch ihre Rangfolge sich umkehrt (Gemeinnutz geht vor Eigennutz). Während aber die Sicherung des Staates, d. h. der bestehenden Ordnung, erst mit der Entwicklung von Klassen und Begründung des Staates selbst zur staatlichen Aufgabe werden konnte, mußte die Gesellschaft schon immer danach trachten, sich zu erhalten. Der Staat hat also auch Aufgaben übernommen, die vor ihm waren und auf andere Weise gelöst wurden. Beiden Aspekten will ich im folgenden nachgehen.
Der Staat ist "eine Einrichtung, die das Recht der besitzenden Klasse auf Ausbeutung der nichtbesitzenden und die Herrschaft jener über diese verewigt (K. Marx / F. Engels: Staatstheorie, Frankfurt/Berlin/Wien 1974, S. 290)."
Grundlegende Voraussetzung für die "Erfindung" des Staates ist also das Bestehen zweier Klassen, einer ausbeutenden und einer ausgebeuteten. Zu fragen ist somit, welches diese Klassen ursprünglich waren und wie sie entstanden.
Innerhalb des marxistischen Geschichtsbildes spielt die Aufeinanderfolge verschiedener Typen von Klassengesellschaften eine gewisse Rolle. Es folgen gemeinhin auf die Urgesellschaft die Sklavenhaltergesellschaft, auf diese der Feudalismus und darauf der Kapitalismus mit seinen verschiedenen Unterstufen (vgl. J. M. Shukow: Über die Periodisierung der Weltgeschichte in: E. Schulin [Hrsg.]: Universalgeschichte, Köln 1974, S. 1o7ff). Dieses Bild ist in letzter Zeit heftig diskutiert worden. Insbesondere wurde die eine strikte Kausalbeziehung suggerierende Stufenfolge und die einseitige Beziehung auf die spezifische abendländische Entwicklung kritisiert (vgl. R. Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin 1974, S. 21ff). Vom Standpunkt innerhalb dieser Diskussion hängt natürlich ab, welchen Weg zur Klassengesellschaft man als den universellen annimmt, bzw. ob man die Meinung vertritt, daß die Auflösung der urgemeinschaftlichen Ordnung verschiedene Ergebnisse zeitigen kann.
Da ich diesen Aspekt hier nicht weiter vertiefen will, andererseits aber am Modellfall der Sklaverei weiterarbeiten möchte, halte ich folgende Klarstellung für erforderlich: M. E. ist es für die Ausbildung von Klassengegensätzen nicht unerheblich, ob auf der Seite der Unterdrückten Sklaven im privatrechtlichen Sinne, Leibeigene oder Fellachen stehen, die möglicherweise untereinander noch nach urgesellschaftlichen Regeln leben, jedoch gegenüber einem Gottkaiser oder einer Priesterhierarchie rechtlos sind. Jede dieser Formen hat besondere Ursachen und führt zu unterschiedlichen Ergebnissen in der Gesellschaftsstruktur, ihnen gemeinsam ist lediglich: Sie repräsentieren gleichermaßen ausgebeutete Klassen.
Bei der Überlegung, wie es denn nun zur Sklaverei gekommen sei, spielt die Vorstellung eine große Rolle, ein Stamm habe den anderen überfallen und dessen Mitglieder zu Sklaven gemacht. Diese so einleuchtende Erklärung beweist aber nur, wie schwer es fällt, sich in die Zustände der Urgemeinschaft hineinzudenken. Noch während der Blütezeit der Gentilordnung wurde gerade das zum Überleben der Gesellschaft erforderliche produziert. Jede Gruppe benötigte zur Jagd ein ausreichendes Schweifgebiet oder umgekehrt: ein bestimmtes Territorium konnte nur eine bestimmte Anzahl Menschen ernähren. So "wurde festgestellt, daß eine Jäger- oder Fischergesellschaft selten über eine Bevölkerungs"dichte" von 0,6 Personen je Quadratkilometer hinauskam (C. M. Cipolla: Die zwei Revolutionen in E. Schulin, a.a.O., S. 92)." Begegneten sich nun zwei Gruppen, konnte es wohl zum Kampf kommen. Die Überlebenden wurden zumeist vom siegreichen Stamm adoptiert um den Verlust an eigenen Leuten zu ersetzen. Eine Versklavung in dem Sinne aber, daß einer zuschaut, wie der andere arbeitet, war völlig ausgeschlossen. Eine Gemeinschaft, in der nicht jeder mit Hand angelegt hätte, wäre verloren gewesen. Es wurde einfach kein Überschuß produziert, der von wenigen Nutznießern hätte verzehrt werden können. Diesen Sachverhalt meint Engels, wenn er schreibt:
"Dem Barbaren der Unterstufe (das ist die späte Periode der Urgesellschaft) war der Sklave wertlos...Die menschliche Arbeitskraft liefert auf dieser Stufe noch keinen beachtenswerten Überschuß über ihre Unterhaltskosten (K. Marx / F. Engels: a.a.O., S.275)."
Voraussetzung für Sklavenhaltung war also ein gesamtgesellschaftliches Mehrprodukt. Erst wo diese Bedingung bereits gegeben war, konnten regelrechte Raubzüge zum Zwecke des Erwerbs von Beute und Kriegsgefangenen stattfinden. Übrigens waren Kriege wohl ein probates Mittel, Sklaven zu "machen", daß es auch ohne ihn ging, beweist die Einrichtung der Schuldsklaverei. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, die Gesellschaften würden trotz Mehrprodukts in der urgemeinschaftlichen Ordnung verblieben sein, wäre nicht die Ausbeutung von Außen in sie hineingetragen worden. Vielmehr bewirkte einfach die Möglichkeit, daß eine Minderheit plötzlich auch ohne Arbeit satt werden konnte, daß sie auch realisiert wurde. Die Entstehung von Reichtum trug den Keim, der zur Bildung von Klassen führte, in sich.
Wenn der Staat das Ergebnis von Klassengegensätzen ist, diese aber einen materiellen Überschuß zur Voraussetzung haben, stellt sich die Frage: Wie kam es zur Bildung dieses Mehrproduktes, welche ökonomischen Veränderungen waren eingetreten?
Bis vor wenigen Jahrtausenden beschränkte sich der Erwerb von Nahrungsmitteln auf das bloße Aneignen des in der Natur vorgefundenen. Andere Wirtschaftsformen als Jagd, Fischfang und Sammlertätigkeit Waren unbekannt. Das bedingte eine teilweise extreme Anpassung an die Umwelt, eine uns unvorstellbare Abhängigkeit von der Natur. Irgendwann, kurz nach der letzten Eiszeit, fand nun jenes einschneidende Ereignis statt, das von den Vorgeschichtsforschern zutreffend als neolithische Revolution bezeichnet wird. Gemeint ist die Domestikation von Tieren und Pflanzen. Erstmals war es nun möglich, systematisch Nahrungsmittel zu produzieren und sich so gewissermaßen zum "Herrn über die Natur" aufzuschwingen. Diese Änderung der Wirtschaftsform aber hatte sofort eine weitere zur Folge: Wer ein Feld zu bestellen hat ist ortsgebunden: er kann nicht gleichzeitig mit den Herden umherziehen. So kam es zur ersten großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern.
Die bessere Ausnutzung der natürlichen Ressourcen hatte nun ihrerseits ein sprunghaftes Anwachsen der Bevölkerung zur Folge. viel mehr Menschen als vorher konnten sich nun in ein Stück Land teilen. Damit aber wurde auch das Eigentum an bebauter oder zu bebauender Fläche wichtig. Klar, daß die "Alteingesessenen" zunächst für ihre Gemeinschaft, dann auch individuell zunächst das Recht auf die von ihnen erarbeiteten Werte, später auch ein generelles Nutzungsrecht am "die Produkte hervorbringenden Boden" beanspruchten. Damit und durch die mit der Seßhaftigkeit ermöglichte zweite große Arbeitsteilung in Ackerbau und Handwerk begann nun auch der Tauschverkehr gesellschaftliche Dimensionen anzunehmen - und: es wurde deutlich, daß die Arbeitskraft eines Menschen mehr Produkte hervorbrachte, als für den Unterhalt eben diese Menschen erforderlich waren.
Die Herausbildung von Spezialisten muß schon frühzeitig stattgefunden haben. Sie beruhte ursprünglich auf der besonderen Geschicklichkeit einzelner, die die von ihnen entwickelten Techniken dann an ihre Nachkommen weitergaben. Obwohl also innerhalb des Verbandes von verschiedenen Gruppen verschiedene Produkte erzeugt wurden, kam es doch nicht zum Warentausch im eigentlichen Sinne.
"Es scheint, als ob der Bootsbau (bei den Maori) nur eine Nebenbeschäftigung war, für die der Betreffende allerdings eine Entschädigung erhielt (I.Sellnow: Grundprinzipien einer Periodisierung der Urgeschichte, Berlin 1961, S. 218)." Und:
"Vernachlässigte ein erfahrener Spezialist (auf Tonga) aus irgendeinem Grunde seine Arbeit..., dann setzte er sich einer Bestrafung seitens seiner Familie...aus (ebenda: S. 528)."
Auf dieser Stufe arbeitet der "Handwerker" ersichtlich noch für die Gemeinschaft, die ihr Recht auf seine Leistung notfalls erzwingt. Waren werden nicht hergestellt, der Äquivalenztausch ist noch unbekannt. Aber: Für den Tausch zwischen verschiedenen Gemeinschaften konnte gleichzeitig ein bestimmter Wertmaßstab durchaus gegeben sein:
"(Auf Samoa) stand für eine große Anzahl von Tauschobjekten ihr Gegenwert in gewöhnlichen feinen Matten fest (ebenda: S.309)."
Es bedurfte nur noch eines kleinen Schrittes, bis der Äquivalenztausch zumindest im Anfangsstadium auch die Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander bestimmte, So wurde die Höhe der Entschädigung für eine geleistete Arbeit, die zunächst den Charakter eines Geschenkes besaß, dessen Höhe vom Vermögen des Auftraggebers abhing, zunehmend von den Spezialisten gemäß ihrer Wertvorstellung diktiert:
"Die handwerklichen Spezialisten hatten sich auf den Marquesasinseln bereits beträchtlich gegenüber der Allgemeinheit verselbständigt. Wenn sie mit den Gegenleistungen ihrer Auftraggeber nicht zufrieden waren, legten sie die Arbeit nieder, und niemand konnte sie an ihrer Stelle zu Ende fuhren (ebenda: S. 238)." Und:
"Da aber die handwerklichen Spezialisten durch ihre Vereinigungen im allgemeinen auf den Samoa-Inseln eine selbständige ökonomische Macht darstellten, waren die alten Traditionen (Geschenk) nur noch eine Hülle, unter der sich die neuen sachlichen Beziehungen zwischen Handwerkern und Auftraggebern verbargen;... (I. Sellnow: a.a.O., S. 310)."
Die sich hier widerspiegelnde unterschiedliche Ausprägung des Tauschverkehrs in Polynesien korrespondiert nun aber nicht mit der Ausbildung der Klassen und staatlichen Zentralgewalt. Während sich diese etwa auf Tonga mit vergleichsweise unterentwickeltem Tauschverkehr bereits etabliert hatten, kann man für Samoa und die Marquesas vor der Kolonisierung noch nicht von einer wirklichen Klassengesellschaft sprechen. Für deren Bildung muß also letzlich noch ein anderer Faktor entscheidend sein, den der Geograph Suret-Canale bei seiner Charakterisierung einer anderen Weltengegend hervorhebt:
"Die afrikanischen Gesellschaften entsprachen in ihrer Mehrheit dem höchsten Stadium der Auflösung der Urgemeinschaft, in dem die gesellschaftlichen Klassen und der Staat erscheinen. Dennoch wirkte hemmend, ja sogar verhindernd...die schwache Entwicklung des Marktes, die sich im Fehlen des Geldes als allgemeinen Äquivalents und im Fehlen des Privateigentums am Boden bemerkbar machte (J. Suret-Canale: Schwarzafrika, Berlin 1966, S. 76)."
Wenn wir die Rolle des Geldes (das ja in Teilen Polynesiens durchaus existierte) außer acht lassen, bleibt also die Aneignung des Bodens und die damit verbundenen Formen der Ausbeutung als Begründung für die Entstehung des Staates. Dies bestätigt denn auch Sellnow für Hawaii, das bereits seit dem 13. oder 14. Jahrhundert als Klassengesellschaft angesehen werden muß:
"Die Grundlage, auf der sich die Ausbildung der Klassengesellschaft vollzog, war also die Aneignung des Grund und Bodens durch das neuentstandene Königtum (I. Sellnow: a.a.O., S. 274)."
Wie es zu dieser Aneignung kam, soll im folgenden Teil in Zusammenhang mit der Funktion des Häuptlings als Organisator öffentlicher Aufgaben untersucht werden. festzuhalten bleibt, daß weder Arbeitsteilung, noch Tausch, noch auch individueller Wohlstand für sich genommen den Staat erforderlich machten; entscheidend ist einzig die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft in welcher Form auch immer.
Die im Schoße der Urgemeinschaft entstandenen Veränderungen erst der Wirtschaftsform, dann der Produktionsweise wirkten sich zunehmend auch auf die Produktionsverhältnisse aus. Indem sie die Verfallsperiode der Urgesellschaft einleiteten, bewirkten sie schließlich die Sprengung derselben um sie durch eine andere Ordnung zu ersetzen.
Mit den Worten Engels':
"Aus der ersten großen gesellschaftlichen Arbeitsteilung entsprang die erste große Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen: Herren und Sklaven, Ausbeuter und Ausgebeutete (K. Marx / F. Engels: a.a.O., S. 299."
Mit diesem Zitat ist das Wesen des historischen Prozesses der Staatsbildung beschrieben. Die Frage nach dem konkreten "wie" kann nur anhand von Beispielen beantwortet werden. Ich möchte sie in folgendem nur indirekt und zwar durch die Erörterung einiger staatlicher Funktionen behandeln.
"Zu den Hauptfunktionen des Sklavenhalterstaates gehörten: 1. die Funktion der Unterdrückung...; 2. die Funktion der Finanzen,...; 3. die militärische Funktion...; 4. die ökonomischen Funktionen und 5. die ideologische Funktion (Autorenkollektiv: Marxistische Staats- und Rechtstheorie Band 2, Köln 1974, S.95)."
Auf den ersten Blick auf diese Auflistung kann man zwei Bereiche trennen:
Dieser erste Blick trügt jedoch insofern, als auch die Erfüllung der den Staat selbst erhaltenden Aufgaben die Übernahme und Abwandlung bereits in der Urgesellschaft vorhandener Verkehrsformen notwendig machte. Selbst Steuern und Abgaben hatten ihre Vorläufer in den Mitteln, die der Einzelne für Gemeinschaftsprojekte und den Unterhalt der dabei Beschäftigten einzusetzen hatte.
Interessant ist also, die Veränderungen zu betrachten, die bereits vorhandene gesellschaftliche Institutionen dadurch erlitten, daß sie zu Funktionen des Staates wurden. Dabei fasse ich die oben zitierten Hauptfunktionen zwei bis vier zusammen und stelle sie an den Anfang.
In der Frühphase der Urgesellschaft war wohl alles menschliche Tun "öffentlich". Hier aber soll der Terminus die für den Erhalt einer Gemeinschaft besonders wichtigen und zudem eine gewisse Koordination voraussetzenden Tätigkeiten bezeichnen. mit der zunehmenden Verbesserung von Werkzeugen und Waffen, der Entwicklung besonderer Techniken ihrer Anwendung und der damit verbundenen Notwendigkeit, sich diese durch eine Ausbildung erst aneignen zu müssen, ergab sich ein gewisser Sonderstatus für die mit der Durchführung solcher Aufgaben betrauten Personen. Auf das Wort dieser "Gelehrten" wurde gehört, zumindest innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches.
"Der Fischmeister (auf Samoa) trat immer dann in Aktion, wenn es sich beim Fischen um größere Gemeinschaftsunternehmungen handelte. Dabei besaß er die absolute Autorität auch gegenüber denjenigen, die im Alltagsleben einen höheren Rang besaßen als er (I. Sellnow: a.a.O., S. 308)."
Der Schritt vom Wissen zur Macht war nicht allzuweit. Mit der Lebenserfahrung der alten Männer wurde die Einrichtung des Ältestenrates begründet. Dadurch wurde Weisheit mit der Mitgliedschaft zum Rat verknüpft, welche durch die Möglichkeit, Einfluß zu nehmen, eigenen Wert erhielt und darum schon bald den ohnedies Mächtigen vorbehalten blieb. Das waren zumeist die Oberhäupter der Großfamilien. Auf die Probleme der Ablösung des Matriarchats sowie der neben dem Rat bestehenden Männerbünde und Geheimgesellschaften kann hier nicht eingegangen werden. Das Amt des Häuptlings, zu dem sich der Ältestenrat als ein Regulativ verstand, begründete sich ursprünglich ebenfalls auf besonderem persönlichen Ansehen, primär wohl dem, ein guter Krieger und Anführer, aber auch ein erfahrener Organisator zu sein. Dies entsprach auch seiner Funktion denn:
"Der Stammeshäuptling (auf den Marquesas) war...der Organisator der für den Stamm notwendigen Arbeiten; er war aber zugleich der Verwalter der durch diese Arbeiten geschaffenen Werte (ebenda: S. 236)."
Wie die Mitgliedschaft zum Ältestenrat konnte auch das Amt des Häuptlings sich ablösen von der Qualifikation des einzelnen Amtsinhabers und sich zudem auf andere Bereiche ausdehnen als die bei der Einrichtung maßgebenden.
"Der Basileus ("König“ in Griechenland) hatte außer den militärischen noch priesterliche und richterliche Amtsbefugnis;... (K. Marx / F. Engels: a.a.O., S. 289)."
Als zuständiger Mann für die Koordination mußte sich die Bedeutung des Häuptlings im Kriegsfall und bei größeren Projekten, etwa dem Bau von Bewässerungsanlagen erheblich steigern. Seine Aufgabe war es bald weniger, die Arbeit zu leiten, dies konnte er wiederum Spezialisten überlassen, als vielmehr die Mittel zu ihrer Durchführung bereitzustellen. Wo viele Menschen zusammenkamen, mußte für ihre Ernährung gesorgt werden. Um dies in ausreichendem Maße zu können, wurde dem Häuptling das Recht übertragen, über das Gemeineigentum zu verfügen. Mit der Möglichkeit, menschliche Arbeitskraft ausbeuten zu können, ergab sich dann die private Aneignung des Bodens, mit der Festigung der Zentralgewalt wurde die Begründung des Staates vollzogen.
"War der Häuptling (auf den Marquesas) ursprünglich nur Verwalter von Stammeseigentum..., so änderte sich das mit der Entstehung von Abhängigkeitsverhältnissen. Zwar mußte der Häuptling noch immer einen...Teil seines Reichtums zu gemeinnützigen Zwecken verwenden; einen anderen Teil aber verwendete er bereits, um andere von sich abhängig zu machen (I.Sellnow: a.a.O., S. 245)."
"Die Abhängigen konnten nur in wenigen Familien Aufnahme finden. Die Grundlage des Abhängigkeitsverhältnisses war (auf den Cook-Inseln) die Abgabe von bewässertem Taroland, wofür regelmäßige Abgaben zu leisten waren. Da jedoch nur die Häuptlinge Land über ihren eigenen Bedarf hinaus besaßen, waren nur sie in der Lage, sich Abhängige zu halten (ebenda: S. 252)."
"So wie im Falle Kamehamehas (König Hawaiis) die Eroberung der ganzen Inselgruppe dessen Oberhoheit über den gesamten Grund und Boden aller Inseln begründete, so dürfte die Entstehung des Königtums auf den einzelnen Inseln, die mit der Unterwerfung der schwächeren Distrikte durch den jeweils stärksten verbunden war, die Oberhoheit der Könige über den Grund und Boden ihrer Herrschaftsbereiche zur Folge gehabt haben (ebenda: S. 269).“
"Kranken und gebrechlichen Personen kommt man hilfsbereit entgegen; doch bedeutet ihr Unterhalt eine zusätzliche Belastung der Familie und der Horde. Besonders alte Leute, die nur mit Mühe den Wanderungen folgen können, verüben oft Selbstmord oder äußern die Bitte, bei der nächsten Verlegung des Lagers zurückgelassen zu werden. Die Sitte gebietet, daß die Kinder dem Wunsche ihrer Eltern nachkommen und ihnen das Scheiden erleichtern...Selbstmord und Blutrache gelten als durchaus moralische Handlungen und die Eskimos haben Mühe, die Argumente der weißen Verwaltungsbeamten und Missionare zu begreifen (G. A.Konitzky: Arktische Jäger, a.a.O., S. 16)."
Sitte bezeichnet die Summe der anerkannten Regeln des Zusammenlebens, sie gibt die Richtschnur für "richtiges" Verhalten. Während in der Klassengesellschaft nur noch Randfragen durch die Sitte geregelt werden, ist sie für die Urgemeinschaft die bedeutendste Institution überhaupt. Ein Übertreten der Sitte wird in der Frühphase selten vorgekommen sein, entsprach doch ihre Notwendigkeit allgemeiner Überzeugung. Besondere Organe für die Sanktion sittenwidrigen Verhaltens waren nicht erforderlich.
"Bei den Aleuten galt es als unzulässig, bei der Teilung der Beute seine Gier zu zeigen. Erlaubte sich das einer, so überließen ihm alle anderen unter Hohngelächter ihren eigenen Anteil (Autorenkollektiv: a.a.O., S. 53)."
Gerade bei so wichtigen "Vorschriften" wie der Blutrache, die als Einrichtung für den Erhalt der Gesellschaft unbedingt notwendig war, konnte es doch hin und wieder zu einer Übertretung kommen. Zog der Schuldige nicht die Konsequenzen, etwa durch Selbstmord, verfiel er der Ächtung des Stammes, wurde ausgestoßen und damit dem sicheren Tode überantwortet. Dennoch kann die Erfüllung der Blutrache nicht als eine lästige Pflicht angesehen werden. Ebensogut stellte sie ein wertvolles Rechtsgut dar - seine Inanspruchnahme gewährte neben der eigenen Befriedigung die Achtung des gesamten Stammes. Eine Aufteilung der Sitte nach positiven und negativen Auswirkungen kam niemandem in den Sinn; man war einfach Mitglied einer Gemeinschaft, deren Regeln verbindlich waren, da sie von allen akzeptiert und in gewisser Weise auch ständig neu produziert wurden.
Erste Ansätze für eine Aufspaltung der Sitte in für den Einzelnen jeweils nützliche und unangenehme Aspekte und damit "Rechtsstreitigkeiten" tauchen erst mit der individuellen Aneignung auf. Sie machten denn auch Schiedsstellen erforderlich, für die das germanische Ding ein Beispiel ist. Vor diese in gewissen Zeitabständen zusammenkommende Volksversammlung wurden die Streitfälle gebracht und dann von ihr gemäß der Sitte beurteilt. Analog der Übergabe anderer Befugnisse ging dann auch das Recht des Dings allmählich auf besondere Organe, wie etwa den Ältestenräten über um schließlich als Rechtsprechung zu einer staatlichen Funktion zu werden
Entscheidender aber als die Urteilsfindung und die Einsetzung eines abgestuften Sanktionsmechanismusses war die Befugnis, Regeln aufzustellen, "Recht" zu setzen. In der Urgesellschaft war die Sitte von Verhaltensweisen bestimmt worden, die durch lange Übung "geheiligt" waren. Veränderungen der Sitte ergaben sich daraus, daß entweder neue Umstände andere Verhaltensmuster notwendig machten oder bestimmte Sitten lange nicht mehr praktiziert worden waren, wodurch sie an Bedeutung verloren. Im Übergang zur Klassengesellschaft aber begannen nun verschiedene Mächtige die Sitte gemäß ihrer eigenen Interessen zu interpretieren und zu verändern. Ein eher harmloses Beispiel dafür sind die an anderer Stelle erwähnten Spezialisten, die die Sitte, Geschenke zu geben in die Übung, einen Kaufpreis zu entrichten verwandelten. Gravierender wirkten sich die Veränderungen aus, die die Sitte zum Instrument staatlicher Herrschaft und Ausbeutung machten: Während die Stammesmitglieder dem Häuptling früher freiwillige Abgaben zu dem Zwecke entrichteten, ihn instand zu setzen, seinen Verpflichtungen nachkommen zu können, entstand ihnen nun die Pflicht, Steuern zu zahlen wie dem Herrscher das Recht, sie zu verlangen.
Das so entstandene Recht kehrte sich automatisch gegen die Bevölkerung, Seine Durchsetzung bedingte den Einsatz polizeilicher Gewalt. Wo immer es existiert, können wir von einer Trennung der Gesellschaft in Klassen ausgehen.
Über den Ursprung der Religion herrscht Uneinigkeit. Nachdem sich die Theoretiker der verschiedensten Richtungen jahrelang verbissen bekämpft haben, scheint man jetzt im Lager der Religionsethnologie beschlossen zu haben, die Ursprungsfrage nicht mehr zu stellen
"denn diese kann mit den Mitteln einer empirischen Wissenschaft nicht gelöst werden (W. Stöhr: Lexikon der Völker und Kulturen Band 3, Braunschweig 1972, S. 52)."
Dennoch möchte ich versuchen, wenigstens die allgemeinen Bedingungen aufzuzeigen, in deren Rahmen der Anfang von Religion m. E. zu suchen ist, bevor ich auf ihre Veränderung durch die neolithische Revolution und schließlich ihre Umfunktionierung zur Rechtfertigungsideologie eingehe. Mit der Menschwerdung, mit der Entwicklung von Sprache einerseits und Werkzeugen andererseits trat erstmalig ein Wesen der Natur als einem Anderen gegenüber.
"Der soziale Mensch und seine Geschichte beginnt mit seinem Emportauchen aus dem Zustand des Einssein mit der Naturwelt, mit dem Erkennen seiner selbst als eines von seiner Umwelt,.., gesonderten Wesens(E. Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt/M 1973, S. 31)."
Diese Abgrenzung des kollektiven Ich von der Umgebung sowie die Interpretation dieses Anderen vollzog sich im Bewußtsein durch das Mittel der Benennung. Mit dem Namen, d. h. mit der Möglichkeit, ein Phänomen durch die Nennung seines Namens zu beschreiben, zu beschwören, seine Natur zu erfassen und seine Behandlung zu besprechen, war bereits ein Element der Herrschaft über die Umwelt gegeben.
"Den Namen eines Dings zu wissen bedeutete, Macht über es auszuüben (A. Govinda: Die psychologische Haltung der frühbuddhistischen Philosophie, Wiesbaden 1961, S. 13)."
In der Frühphase hatte diese Methode der Besitzergreifung mit Aberglauben nicht das geringste zu tun.
"Für ihn (den primitiven Menschen) war Religion eine Lebensfrage: nämlich eine Frage der Selbsterhaltung und des Widerstandes gegen die ihn umgebenden unbekannten Mächte,... (ebenda: S. 11)."
Aus diesen Anfängen er gaben sich "Erkenntnisse", die sowohl auf Beobachtungen als auch auf Spekulation beruhen mochten. Dieses "Wissen" um die Ursachen der umgebenden Erscheinungen konnte selbstverständlich nicht vor den Menschen halt machen. Ihr Ursprung wurde ebenfalls erklärt und mit den Mächten der Natur vielfältig verwoben. Dabei schloß der Mensch von sich auf das Andere, er projizierte seine Fähigkeiten des Handelns und Denkens auf die Natur, namentlich auf seinen Hauptgegner, das jagdbare Großwild. Von daher werden m. E. besonders der Jagdzauber und der Schamanismus verständlich.
Mit der Domestikation von Tieren und Pflanzen, d. h. mit dem Beginn systematischer Nahrungsmittelproduktion veränderte sich auch das Verhältnis zum Anderen. Zwar ergab sich einerseits eine bessere Beherrschbarkeit der Natur, andererseits aber nahm die Abhängigkeit von Erscheinungen zu, die vorher vernachlässigt wurden bzw. deren Folgen man ausweichen konnte. Ob zuviel oder zuwenig Regen, ob Hitze oder Kälte, Hagelschauer oder Heuschrecken, immer war die Ernte gefährdet, von der das Überleben abhing. Der Mensch wurde sich zunehmend seiner Ohnmacht gegenüber derlei Mißlichkeiten bewußt. Die Verursacher solcher Erscheinungen waren zweifellos mächtig - sie versöhnlich zu stimmen, bediente man sich ähnlicher Methoden, wie sie die Menschen untereinander gebrauchten. Aus dem Anderen, dem Natürlichen, war ein Übernatürliches, waren Götter geworden.
"Als göttliche Personen können alle Kräfte erscheinen: ...die Monsunwinde, der Wind, der Gewitterguß, die Kraft der Erde,..., die Morgenröte,... (P. Thieme: Gedichte aus dem Rig-Veda, Stuttgart 1964, S. 8)."
Auch wenn es bereits vor der neolithischen Revolution zur Vorstellung von Göttern, also Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten gekommen ist, so hatten sie doch keine wirkliche Macht über die Menschen. Nun aber wurde ihre richtige Behandlung zu einer Wissenschaft, von deren Beherrschung die Existenz aller abhängen konnte. Die Religion nahm eine neue Qualität an. Konnte bisher im Prinzip noch jeder mit den Geistern in Verbindung treten, so bedurfte es fortan einer besonderen Ausbildung, ein neuer Typ des Spezialisten trat auf, der Priester.
Dennoch behielt die Religion bis zur Errichtung des Staates ihren gemeinschaftsfördernden Charakter. Sie lieferte die Erklärungen zunehmend auch für das Handeln der Menschen.
"Es ist daher natürlich, daß die ritualen Bräuche, die dem Beginn der Feldarbeiten vorangingen, nicht nur einfach religiöse Handlungen, sondern auch Produktionsakte waren. Von ihnen wurde ein direkter Nutzen erwartet und daher die Mißachtung von Einzelheiten des Brauchs als gesellschaftliches Unglück angesehen (Autorenkollektiv: a.a.O., S.51)."
Mit der "Entfremdung" von der Natur tritt immer deutlicher die Gesellschaft der Menschen in den Vordergrund. Neben die Anrufung der "Klima-Götter" tritt die Verehrung von Ackerbauprodukten und Werkzeugen, schließlich sogar von menschlichen Institutionen. Außenbeziehung und Innenverhältnis (Sitte) stellen bald untrennbare Größen dar, eine erklärt die andere.
"Es kann sich (bei den göttlichen Personen) auch um sittliche Begriffe handeln oder genauer: um die Kräfte, die der Wahrheit, dem gegebenen Wort, dem Dichterwort, dem politischen Vertrag und dem zwischen Wirt und Gast geschlossenen Gastvertrag innewohnend gedacht sind (P. Thieme: a.a.O., S. 9)."
Damit aber ist der Umbruch bereits vollzogen. Die Vergöttlichung einzelner menschlicher Produkte, schließlich das Zusammenschweißen der menschlichen mit der kosmischen Ordnung spielt sich bereits auf einer Ebene ab, wo die Priester suggerieren konnten, nur ihr Tun allein wurde den Bestand der Gesellschaft und des Universums garantieren. Dies konnten sie erfolgreich erst dann tun, als die Möglichkeit, sich von Arbeit freizuhalten bereits gegeben war und eine staatliche Instanz unter Kontrolle der Priester selbst oder eng mit ihnen verbunden die Ausbeutung des Volkes ermöglichte.
Im vorigen Abschnitt habe ich versucht, einzelne Funktionen des Staates als in anderer Form auch schon in der Urgesellschaft vorhanden zu beschreiben. Dabei ist vielleicht die Qualität, das Ausmaß der Veränderung, die sie durch die Errichtung der Klassengesellschaft erfuhren sowie ihre untrennbare Verknüpfung, ihr gegenseitiger Begründungszusammenhang zu kurz gekommen. Dieses Versäumnis möchte ich durch ein Zitat von Habermas korrigieren:
"Hochkulturen unterscheiden sich von primitiveren Gesellschaftsformen: 1. durch den Tatbestand einer zentralisierten Herrschaftsgewalt; 2. durch die Spaltung der Gesellschaft in sozioökonomische Klassen; 3. Durch die Tatsache, daß irgendein zentrales Weltbild zum Zwecke einer wirksamen Legitimation der Herrschaft in Kraft ist. Hochkulturen sind auf der Grundlage einer relativ entwickelten Technik und einer arbeitsteiligen Organisation des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, die ein Mehrprodukt,...ermöglichen, etabliert. Sie verdanken ihre Existenz der Lösung des Problems,...: Reichtum und Arbeit nach anderen Kriterien als nach denen, die ein Verwandtschaftssystem zur Verfügung stellt, ungleich und doch legitim zu verteilen (J. Habermas: Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt 1973, S. 65)."
Autorenkollektiv: Marxistische Staats- und Rechtstheorie Band 2, Köln 1974.
Dutschke, Rudi: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin 1974.
Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt 1975.
Govinda, Anagarika: Die psychologische Haltung der frühbuddhistischen Philosophie, Wiesbaden 1961.
Habermas, Jürgen: Technik und Wissenschaft als "Ideologie", Frankfurt 1975.
Konitzky, Gustav A.: Bisonjäger, Stuttgart 1959.
Derselbe: Arktische Jäger, Stuttgart 1961.
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