Marina

Hrönir und Mathoms. 

In den Geschichten über das geheimnisvolle Land Ukhbar von Luis Borges werden die Hrönir erwähnt, Gegenstände, die verschwinden und wieder auftauchen, auch sich verdoppeln etc. Tolkiens Geschichte von der Sitte im Auenland, Gegenstände weiter zu verschenken, so lange, bis niemand weder den ursprünglichen Zweck der Dinge mehr kennt noch den Erstschenker oder Erstbeschenkten. Wenn ich bedenke, wie viele nützliche und weniger nützliche Dinge, teils echte Kunst- und Kultobjekte, Marina und ich in den letzten 20 Jahren in den gesellschaftlichen Kreislauf integriert haben. Viele davon sicher im Müll gelandet, manche aber auch von irgendwem irgendwo geschätzt verwahrt. Heute gebe ich das Gefährt des Astronauten der Öffentlichkeit preis. Der nie trocknenden Silberoberfläche vermochte der Zahn der Zeit keine Härte zu verleihen. Wem das wohl zukömmt?                   

30411

gerne möcht ich ihr gestehen

was so ängstlich ich verberge

es wird wohl wieder nicht geschehen

dass ich offen um sie werbe

denn ich weiß ja sie will frei

möchte ungebunden sein

und so bleibt es denn dabei

bin verliebt und doch allein

30412

bleibe bei mir lass mich schwelgen

in deiner liebe zärtlichkeit

hingegeben immerdar

deiner hände scheuem spiel

liebling mit dem feuchten haar

30720

ungehört von meinen schwestern

verhallt der schrei

viel zu nah und lange

stand ich am ufer des sees

worin der stolze kranich fischt

mein spiegelbild darin

unvermutet plötzlich

lässt mich schwindeln und das stürzen fürchten

das zum ertrinken führt

schwerer winde heulen

lässt starker schwingen brechen ahnen

der fall ins wasser

erst so sanft

der sommerwarmen fluten wegen

endet tödlich viel zu leicht

wie ein sonnenstrahl im regen

der sog von überraschten tiefen

lässt mich vom grund zum letzten mal

ganz hell den blauen himmel sehen

um dann in wissendirrer qual

mit mir ins schattenreich zu gehen

verfallen

wort mit doppelsinn

trugbild alt wie menschen

wilde tiefe schönheit

greifbar hinter fremden augen

lockt an das ufer

verdichtet sich aus wirrem nebel

und findet langsam zu bekannter gestalt

30721

mit wachen sinnen sitzen und schweigen

mit zuckenden sinnen hellwach wie im traum

großer frieden und sonne darüber

verharrend genießen eigene untat

die welt genießen in sich zuhaus

blauender morgen noch ungepflückt

erfüllung finden am ende der fragen

der fragen ledig gesang erheben

grünes laub das wohlig erzittert

30722

mumien

jahrtausende alt

hirnlos ausgeweidet einbalsamiert

warten geduldig schimmelnd

auf die prophezeite auferstehung

giftig und bitter wie die salben

ist die erfahrung

dass tote zu staub zerfallen

ungeweckt

lange bevor der letzte morgen dämmert

30723

dat s værbi is gån is weg

wat dår mål an schrillklang weer

un den dålslågn bangen blick

kenn ik ok op mål nich meer

wat dår ris in t ingedöm

is n unnæmt wolgeföl

ån ne klær un sünner form

dat is sünnschin in min seel

gå ik dær min heimatstadt

poorn un ogen rëten åpen

röppt t luthals int binnerst mi

welt un ik wi hört tohopen

wenn k mi fråg wå t angån kann

dat ik bün vull frëden nu

fallt mi dat mit eenmål in

minsch marina dat weerst du

30724

der junge kam von rechts wie er konnte

und war ein wenig blind wie kinder sind

doch schuld trug ganz allein

der mann im auto

das aus der auffahrt rausgeschossen kam

der junge wohl im schock

gab keinen laut des schmerzes

und schrie ich hab mir nichts getan

er nahm sein rad und schob davon

der fahrer stand noch lang und bebte

wir anderen sahen uns nur schweigend an

30725

wer sich an die stirn setzt

wird schon wissen warum

30801

lebendige feuchtigkeit glitzert schüchtern

auf den rändern deiner lider

die im schlaf eng beieinander ruhen

sich zärtlich gegenseitig berühren

feucht ist die erde vor deinem haus

die den sträuchern die knospen öffnet

feuchtigkeit ist auch zwischen meinen schenkeln

wenn ich bei dir gelegen habe

wie in der schweren erde

wo sie zurückblieb nach langem frost

getautes eis

nach langer kälte dem winter zu zeigen

was von seinem langen besuch zurückblieb

das grün dass er selbst zu erfrieren suchte

nährt er jetzt mit den strömen lebendiger feuchtigkeit

30802

warte nicht

bis die situation sich ändert

das geschriebene wort duldet keinen widerspruch

warte nicht

bis wir uns besser fühlen

die bequemlichkeit hält ständig

vergessen für uns bereit

warte nicht

bis ich nach dem grunde deines schweigens frage

ich bin genauso einsam

warte nicht

bis ich sprechen kann

ich habe angst

du willst mich nicht hören

warte nicht

bis bücher und fernsehen uns lücken lehren

noch sind wir lebendiger und stärker

warte nicht

bis ich dich bitte

nicht fortzugehen

ich werde es kein zweites mal sagen

aber warte auch nicht

bis ich leer für dich bin

wenn du gehst gehst du in frieden

warte nicht

auf den neuen morgen

er hat immer bereits begonnen

warte

wenn du nicht anders kannst

ich liebe dich

30803

endlos weit ist der himmel

zu dem wir schreien

wolkenbänke besetzt von leere

harren der kinder mit gelbweißem haar

doch endlos zu eng all dem leben

das wir speien

die lüfte flutend wie die meere

weißt du das nicht geliebter narr

30804

halt mich wenn ich falle

lach nicht wenn ich lalle

und hilf mir auf die beine

ne zeitlang mit auf deine

30805

an diesem kalten morgen

hab ich viel angst um dich

ich sitze hier und warte

was machen kann ich nicht

mag sein dass dein freund recht hat

was zärtlichkeit betraf

ich wusst es halt nicht besser

heut find ich keinen schlaf

dies angebot von nähe

die ich sonst gerne hätt

ist anders als der frieden

teilst du mit mir das bett

30806

das gespräch

ist eine kleine insel

auf der nicht jeder

schiffbrüchige platz hat

denn die sprechen

lassen die anderen

weiterschwimmen

und notfalls

auch ertrinken

30807

der sog lauert erbarmungslos

überall findet er mich

in den letzten verschlossenen raum

ist er mir hungrig gefolgt

es hat keinen sinn weiter wegzulaufen

es gibt keine inseln mehr

ich will niemandes leben aussaugen

ich kann mich nicht allein vor dem sog schützen

keine adresse war ihm zu verborgen

keine mauer zu dick

kein geflüster zu leise

aber außer mir hat kein mensch interesse

jedenfalls nie über die zeit eines gemeinsamen lächelns hinaus

mich vor dem fressenden loch zu beschützen

30808

meine kalten hände lege ich zu wärmen

an deinen leib

das vertrauen auf die erlaubnis

dich zu berühren

hat mich mutig gemacht

deine abwehr reizt mich

tieferes einverständnis voraussetzend

ich hoffte du würdest heimlich genießen

dass du mir das gefühl gabst

attraktiv für dich zu sein

trotz deiner spröde liebst du mich

und brauchst meine kalte berührung

wüsstest du ich käme nicht wieder

könntest du nicht schlafen

meine neckerei würde dir fehlen

ich brauche keine angst zu haben

dich zu verlieren

30911

Drosselkind

Meine fremde Schwester, unfreiwillig teilst Du mein Zimmer und mein Leben. Unendlich älter als ich, und dennoch keine sechs Wochen alt, warst Du als wir uns trafen. Deine Augen schwarz und unergründlich weise und hilflos wie die eines Menschenkindes ließen vergessen, daß Du mir so fremd warst, als wärst Du Gast aus einer anderen Zeit oder aus einem anderen Sonnensystem. Dein Herzschlag in meiner Hand – ich danke Dir für Dein Vertrauen – ließ mich fürchten, daß Du aus Angst vor mir sterben könntest. Als Du allein zu essen lerntest wäre ich fast geplatzt – vor Stolz über das von mir begünstigte Wunder. Grausam und gerecht verspeistest Du Regenwurm und Raupe – ohne Unterschied – Deine filigranen Federn und meine schweineähnlichen Borsten aus rosiger Haut. Alter-Ego Dein Schrei nach der verlorenen Freiheit brach mir fast das Herz – so laut hat noch niemand danach gerufen den ich sonst kenne. Hinter schmutzigen Fensterscheiben bist Du fast gestorben an der Sehnsucht nach Sonne, Freiheit, Zärtlichkeit und Essen – diese Bedürfnisse kenne ich auch. -Trotzdem, auch wenn ich es selbst nicht kann – immerhin brachte ich Dir das Fliegen bei und Deinen Schnabel habe ich auch repariert. Bitte, versuch Dich daran zu erinnern, wenn Du im nächsten Frühjahr Deine ersten Kinder großziehst. Irgendwie bin ich doch fast ihre Tante. Vielleicht fliegen und singen sie dann ein bißchen für mich mit.

Peinlich, weil kitschig, aber trotzdem ich.

kindchens haare fangen sonne

wenn zwischen zweigen

den traurigen armen

gelbe strahlen locken treffen

die weide lächelt glücklich tänzelnd

grüne finger liebkosen das kind

silberblätter spinnen leise

sommerträume mit dem wind

meine schatten kühlen dich

doch ich rufe dich vergebens

sehe dir von weitem zu

freu mich deines wachen lebens

arbeitstag

aufstehen in der hoffnung

diesen tag am abend

wieder mit nach hause zu nehmen

wie jeden tag

die hoffnung auszuhalten

während ihre herrschaft

aus meiner zeit

in dieser zeit

mit meinem leben

eine graue suppe kocht

die fähigkeit zu leiden

warnt vor dem vergessen

wie schmerz

vor weiterer verwundung warnt

und wut den gedanken

zu kämpfen weckt

ich habe nicht genug tage

um sie ein ganzes

entfremdetes leben lang

für etwas betäubung meiner angst

an menschenfresser zu verkaufen

wunsch oder nüchterne frage

ob du warm und weich bist

ich weiß es nicht

wenn dein weg

nicht so weit von meinem ist

dann solltest du mir sagen

ob ich ein stück

mit längs kommen soll

das geht dann schon irgendwie

egal ob er nun

über sand oder steine führt

über gras oder moos

auch über beton

oder barfuß über glasscherben

folgte ich meinem gefühl

käme ich mit

selbst wenn ich wüsste

dass es ein holzweg wäre

schön wärs

ich denke also bin ich

ich dachte ich wäre

altun ist tot

biermann ist ein opportunistisches schwein

in ihm hasse ich die eigene feigheit

hass ist das einzig ehrliche gefühl

das mir geblieben ist

solidarität ist fiktion

selbstbetrug aus kindlichem

heileweltwunschdenken

Zettel

Чернобыль

Anfang Mai vertrieb uns der im Radio angedrohte radioaktive Regen von den Gestaden der Ostsee. Schönes Wetter hatten wir zuhause beim Renovieren d. Küche (Waschmaschine, Fußboden, Teppich, Wände). Mit Töle zu dritt haben wirs Ende Mai noch mal gewagt. Kalt wars am Strand. Aber das Feuer hatte nichts an Faszination verloren und wir hätten gern länger Urlaub gehabt (wenn uns nicht die Bullen von unserem Standort vertrieben hätten). Landschaftsschutzgesetz erlaubt AKWs aber keine Menschenscheiße auf Flurstücken außerhalb von Campingplätzen. Und dann hatten wir Juni und den Hamburger Konvoi mit den entfesselten Prügelbullen + dem Hamburger Kessel mit der neuesten Demoverhinderungsvariante. Danach aber stand es 2:0 für meinen Fluchtinstinkt.

Brief an Marina

Rauchmelder

OM HU EL MA RI NA

Ich, du, es, tun, dulden [(er-)leiden], (bleiben) lassen.

Gedanken zur Sechswortsprache:

Sie erlaubt nicht, sich vom Konkreten zu lösen. Ein Satz ist erst vollständig in der außerverbalen Verknüpfung mit seinem Gegenstand. Und er behält nur Gültigkeit, solange die Situation, die ihn provozierte, andauert. Innerhalb dieses Rahmens aber besitzt er Aussage, beschreibt und steuert Verhalten. Ich bin, ich mache, ich will, ich mag, ich möchte, ich liebe, ich hasse, ich kann... all dies ist OMMA. Der Aufruf an alle, es jetzt zu tun ist MA*) die Aufforderung an einen Einzelnen HUMA, das beiseiteschiebende „lass mal Papa ran“ ist wieder OMMA und die feinsinnig schlaue Überlegung, ob man es nicht einem anderen überlassen könnte, gerinnt zu ELMA? Subjekt, Prädikat, Objekt...gewiss, aber wie festmachen, wenn OMMAEL, ELMAEL, MAELOM? Und zweimal EL ist natürlich ELEL.

Die Verneinung. Aber ja, ist reichlich vorhanden. Lass! wird NA! Hier kann MA zum Hilfsverb werden: HUMANA, HUNA, HUNAMA! Kommt das Pferd? MAEL? Nein, es kommt nicht. ELNA, ELMANA, ELNAMA. Wozu das RI? Nun damit kann man sich über gegenseitige Absichten Verständigen. OMMAHU HUMAOM könnte ja sehr wohl die Aufforderung zum Streit sein. Auch OMMAHU HUNAMAOM ist ne ganz schöne Anmache. Die Vervollständigung OMMAHU HUNAMAOM HUMAOM OMNAMAHU klingt ein wenig umständlich. Daher bietet sich für die Liebeserklärung wie auch für tausend andere Situationen die Benutzung von RI an: OMMAHU HURIOM oder besser HURIOMMA?

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*) Bei feinerer Differenzierung wäre auch HUHUMA denkbar. Eine Verwechselung mit „Kümmer dich um deinen eigenen Dreck“ ist nicht nur aufgrund der Situation unwahrscheinlich, sondern auch aus dem Grund, weil letzteres eher HUMAHU lauten müsste. Was natürlich auch positiv gemeint sein: „Du kannst dich unbesorgt mit deinen eigenen Angelegenheiten beschäftigen.“ Der Ton macht die Musik. Immer aber bleibt die Frage der Auslegung. Alle Formen sind wandelbar. Besonders deutlich wird dies bei Verbindungen wie MARINA, man soll sich nicht als Objekt benutzen lassen oder handeln, dulden, unterlassen, mithin die Gesamtheit aller möglichen Verhaltensweisen?

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Eine weitere Variante von ich liebe dich: OMRIHU. Ein Gruß: HUMA. Eine Erkundigung, was machst du? HUMAEL? Antwort: OMMAEL. Aha. Für die Schreibe wäre es vielleicht sinnvoll, Partikel wie das da, hä?, OK irgendwie auszudrücken, etwa !, ?, mh. Aber die Sechswortsprache ist ja keine Schreibe, Gottseidank! Spielst du mit mir? OMUMA? MAEL? EL! Der Strauß spinnt. EL NAMAMA oder EL MANAMA. Wir sollten ihn bremsen. OMUEL EL NAMAOMHUEL, besser wohl: OMHUEL NAMARI EL. Ich rauche eine Zigarette OMMAEL. Gibst du mir auch eine? HUMAELOM? Ich hab keine mehr, aber du kannst an meiner ziehen: HUNAEL HUMAOMEL.

             OM

     NA                       HU

     RI                         EL

             MA

OMNAMA EL OMMA ... ein solcher Satz ist ohne Wissen um den augenblicklichen Verwendungszweck unübersetzbar. Aber es macht Spaß, einen Satz aufzuschreiben, um dann eine Situation zu erfinden, in der er Sinn gibt. I don't know where I have to go. Ich mache nichts, es macht mich. Ich kenne es nicht, aber ich möchte ihn gerne kennenlernen. Am Aschermittwoch ist alles vorbei; ELNAMA. RI ist doch seltener, als ich dachte, oder denke ich gerade keine RI-Sätze? Ich bin krank; OMRIMA. Es kann noch viel gedacht werden. Wieso hat die Sprache keinen Namen? Sie heißt EL. Ich spreche EL: OMMAEL, du nicht: HUNAMAEL. Was natürlich auch heißen kann ich mache Unsinn aber was machst du nicht alles! Wache ich oder träume ich: OMMAOM? OMRIOM?

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Nun heißt ja alles, wenn man über es spricht, von ihm spricht EL. Dies schadet nichts, sofern EL ein Ding ist, das (man) mit Händen greifen, mit Fingern zeigen kann. Vielleicht sind aber gewisse Abstraktionen doch sowohl erlaubt, als auch wünschenswert. Eine Unterkategorie von EL etwa wäre, das, was zwei machen. EL, ELELMA was auch, was viele tun bedeuten könnte. Aber natürlich auch 1000 andre Sachen. Etwa: Er ist viele Steine klopfend, Er zeugt Kinder. Was weiß ich. Oder auch Liebe. Dürfte aber häufiger in der Form EL OMHUMA vorkommen.

Die Gesellschaft = OMHUEL! Sie ist beschissen = EL UMHUEL NAMAMA! Wir können sie ändern = OMHUEL MA OMHUEL NA NAMANA! oder OMHUEL NARI OMHUEL NAMAMA! oder OMHUEL MA OMHUEL MAMA. Darin aber zeigt sich auch die Selbstverständlichkeit der Aussage: Wir können uns ändern. Wie aber nun in einer Klassengesellschaft?

OMOM NARI ELEL MA OMHUEL NAMA.

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