Ein anarchist: für mich ist das ein mensch, der jede form von macht und herrschaft, unterdrückung und ausbeutung für sich und andere ablehnt und bekämpft, jemand, der deshalb und gleichzeitig sich selbst autonom so zu gestalten versucht, daß auch von ihm keine unterdrückung ausgeht. Dieses ideal vor augen habe ich manchmal scheu davor, mich als anarchisten auszugeben. Dabei ist der anarchismus älter als sein name, so alt wie die herrschaft von menschen über menschen ist auch die auflehnung, der kampf gegen diese herrschaft. Die "anarchisten" jedweder epoche der menschlichen entwicklung waren die, die das höchstmaß an freiheit verwirklichen wollten. Wer dies heute will ist für mich ein anarchist, egal auf welchen wegen er zu diesem punkt gekommen ist.
Ein marxist: jeder, der sich zu den "prinzipien des dialektischen und historischen materialismus" 'bekennt'? Ein solcher braucht nicht mehr dazu, wie jeder gläubige anhänger einer 'lehre'. Oder ein philosophisch denkender mensch, der grübelnd die gesetzmäßigkeiten in der menschlichen gesellschaft aufzuspüren sucht um sie zu verändern? Solche aber sind selten und zumeist fehlt ihnen der kontakt mit der lebendigen wirklichkeit: zu sehr in büchern vergraben. Es kann doch schließlich nicht jeder philosoph sein! - Warum eigentlich nicht?
Die theorie: Es braucht keine um zurückzuschlagen, kaputt zu machen, was einen kaputt macht. Auch dazu nicht, sich eine bessere, eine menschliche, eine geilere gesellschaft auszumalen. Theorie ist das, was über die tägliche erfahrung hinausgeht, auf ihr aufbauend zwar, aber nicht bei ihr stehenbleibend. Zu erkennen, was ist. Um die geringen kräfte da anzusetzen, wo das system am anfälligsten ist. Und nach möglichkeit nicht immer wieder auf dem nullpunkt ansetzend, sondern das verwendend, was die generationen vor uns erarbeitet haben.
Es gibt also ein theoriebedürfnis. Der wunsch nach sicherheit, danach, des eigene handeln an etwas messen zu können, an etwas jedoch, des nicht starr gegeben ist, sondern veränderbar an den punkten, wo es sich für die praxis als untauglich erweist. Ein zielgerichtetes handeln ohne einen solchen maßstab erscheint vielen als unmöglich. Wenn es am theoriebedürfnis eine religiöse komponente gibt, dann ist sie sehr ursprünglich: die suche nach dem sinn.
Warum aber sollten anarchisten deshalb nach dem ollen marx greifen, gibt es nicht genug anarchistische theoretiker?
Ja, es gibt sie! Aber von ihnen geht keine faszination aus. Beim lesen ihrer schriften stellt sich kein "aha-erlebnis“ ein, man fühlt sich nicht "überzeugt“. Und zwar deshalb nicht, weil ihre gedankengänge uns vertraut vorkommen, das sind, was wir eigentlich selbst hätten denken können, einfach nur die beobachtung der wirklichkeit, ihre beschreibung und daraus entwickelt, wie es doch eigentlich besser sein könnte.
Da hat marx doch mehr zu bieten. Er zerlegt die wirklichkeit in analytische faktoren, in tendenzen und widersprüche und daraus fügt er wieder zusammen, baut auf, weist nach ... und wenn mans verstanden hat - oder zu haben glaubt - ist die freude groß! Auch anarchisten sind ihm erlegen. Bakunin etwa hatte an marx so ziemlich alles auszusetzen, dennoch hat er das kapital ins russische übersetzt. Dabei wird er sich schon was gedacht haben.
Der hamburger "entwurf eines vorläufigen programmentwurfs für eine programmatische erklärung der freien arbeiter-union" wird wie ich glaube nicht deshalb kritisiert, weil er marxistisch ist - auch die kritiker arbeiten mit marxschen begriffen - sondern weils nach ML riecht. Und das tut es in der tat - und zwar deshalb, weil die anarchisten sich ihres latenten marxismus nicht bewußt sind, sich mit marcuse, habermas, lukácz, adorno, dutschke kaum auseinandergesetzt haben und deshalb die marxistische methode gleichsetzen mit dem, was die autoritären kommunisten, marx durchaus eingeschlossen, aus ihr gemacht haben, eine rechtfertigungsideologie ihrer eigenen herrschaft oder möchte-gern-herrschaft.
Deshalb wurde der programm-entwurf zum teil von solchen anarchistischen genossen formuliert, die ihre marxistische 'schulung' in der tat in den kadern der ml-parteien erfahren haben. Und das merkt man halt. Aber der entwurf wird jedenfalls nicht besser, wenn nur wenige bereit sind, sich auf ihn einzulassen, ihn schritt für schritt zu kritisieren und somit zielt die kritik letztlich nicht gegen diesen programm-entwurf, sondern gegen die programm-idee überhaupt.
In der tat, weshalb sollte eine anarchistische organisation ein programm haben. Der föderale zusammenschluß arbeitender gruppen zum zwecke des informationsaustauschs wird ja wohl auch ohne möglich sein. Wohl wahr, wir aber wollen mehr! Wir wollen uns nicht zufrieden geben mit dem bewußtsein, hier und da dabei zu sein, alternative nieschen aufzubauen, das erreichte durch die schaffung eines diskussionszusammenhangs abzusichern.
Wir wollen den kampf aufnehmen, den kampf gegen diesen staat, gegen dieses system. Dafür wollen wir uns zusammenschließen und zwar mit solchen leuten, die nicht nur unsere träume teilen, sondern auch unsere grundlegenden einschätzungen, die mit uns gemeinsam die methoden entwickeln wollen, diesen kampf effektiv führen zu können. Dabei sind wir uns der gefahr bewußt, daß eine solche organisation in sich erneut machtstrukturen entwickelt; dieser gefahr wird man begegnen müssen - ein instrument dafür muß die völlige autonomie jeder ortsgruppe sein, autonomie jedoch auf einer einheitlichen grundlage. Diese muß nicht identisch sein mit dem vorgelegten programm-entwurf, besser wärs, sie wäre das ergebnis unserer gemeinsamen diskussion all der inhaltlichen punkte zu denen die meinungen auseinandergehen. Diese grundlage braucht keine marxistische gestalt zu haben, laßt uns unsere gemeinsamen überzeugungen besser formulieren, knapper und anarchistischer. Aber tun müssen wir es, auf dem herbstkongreß, am 7. und 8.2.81 in bielefeld, waldemarstr. 4, halle des volkes. Schlafsäcke und geld (15 mark für die unkosten und noch was für fressalien) mitbringen!
Ene Bangis, FAU, OG-HH