Klerus 3

④ Ubgarva

Die Grundüberzeugung der meisten Menschen in den drei Kernlanden der anguramischen Religion und weit darüber hinaus hielt allen Zusammenbrüchen theologisch geglaubter Gewissheiten im Zuge der khrassitischen Invasion und der mit ihr verbundenen ungeheuren Umwälzungen materieller wie geistig-philosophischer Art zum Trotz daran fest, dass es letztlich nur sechs große Gottheiten gab, die das Schicksal des Universums oder doch zumindest das des Planeten lenkten. Ein Symbol dieser Volksweisheit war das Hexagon.

Mochte es den Spitzfindigkeiten von Gelehrten und Priestern gemäß mindestens 26 Göttinnen und Götter geben und diverse weitere Wesenheiten dazu, wer nicht einer besonderen Berufs- oder Abstammungsgruppe angehörte, die sie/ihn mit einer der weniger präsenten Gottheiten verband, der setzte auf diese Hochgöttinnen, von denen eine männlich gedacht ist. Und von diesen sechs hatten sich nach der Zeitenwende, nach der sich immer mehr durchsetzenden neuen Lehre, erst zwei offenbart, Anadricadan, die nicht gerade für ihre konstruktive Mitwirkung bekannt war, und Ilsarpan, die doch gewohnheitsmäßig hinter Ubgarvan zurückstand. Wo waren die restlichen Mitglieder des Hohen Rates, warum hielten sie sich vornehm zurück, hatten sie die Welt gänzlich verlassen?

Dies drückt in etwa die Stimmung weiter Kreise der durchaus glaubenswilligen Bevölkerung des okhogondischen Hauptkontinents im Jahr 1858 aus.

Didana Zoonakan, 1858 Freyja, Offenbarung 28. April 1858

In Anguram residierten die von ihrem Ringen mit dem Dämon genesene Hekate und der Strahl der Hoffnung Athene, die verderbliche Nanna war endlich verstorben und konnte abgehakt werden, Phanes wirkte allenfalls noch im Verborgenen für die Alleinheit und in Banasheyo fungierten Nerthus und Sigyn als Repräsentanten der beiden dogmatischen Hauptlinien. So war die Lage, als mit 91 Jahren mit Didana Zoonakan eine neue Denk- und Sichtweise eingeführt wurde, eine neue Runde im Geschlechterkrieg. Es gibt deren auf Okhogondos im Wesentlichen zwei, wie es die meisten sich sexuell fortpflanzenden Lebewesen im Universum halten. Natürlich plusminus der einen oder anderen Abweichung, deren Existenz und Berechtigung von niemandem in Zweifel gezogen wird. Schon gar nicht auf Okhogondos, das eine patriarchalische Frühzeit schon vor etlichen tausend Jahren überwunden hat und das als geschlechtergerecht mit leichter Tendenz zum Matriarchat angesehen werden kann.

Wenn trotzdem von einem Kampf der Geschlechter die Rede war, so hat dies eine zumeist ästhetische Bedeutung dergestalt, dass ein ewiger Wettbewerb um die Erreichung von Schönheitsidealen ausgetragen wird. Die Begriffe Krieg und Kampf sind also eher sportlich zu verstehen. Auch dies Phänomen kann hier nur angedeutet werden.

Didana Zoonakan hatte jedenfalls die von vielen lang ersehnte Begegnung mit einer weiteren Hauptgöttin, in ihrem Fall mit Ubgarvan, die primär als Liebesgöttin gilt und in deren Person natürlich die Vollendung weiblichen Liebreizes am ausgeprägtesten in Erscheinung treten sollte, so die herrschende Lehre und die sichere Überzeugung des Volksglaubens. Auch war bei ihrer figürlichen Darstellung die Grenze zwischen Kunst und Pornographie oft schwer zu bestimmen und viele Anhänger gerade dieser Gottheit nutzten ihren Status in der Götterwelt, ihre eigene Triebhaftigkeit zu rechtfertigen.

Die Offenbarung der Ubgarvan bewirkte, dass sich Didana Zoonakan zur Botschafterin einer befreiten Sexualität entwickelte, Lebenslust und Freude über das Einhalten von Konventionen stellte und vor allen Dingen einen Slogan propagierte, der mit „naturalness is beautiful“ übersetzt werden könnte. Sie war überaus erfolgreich, sammelte zahlreiche Anhängerinnen und Anhänger um sich und genoss allgemeine Zustimmung. Aber sie lebte in Banasheyo und hatte zwar Gastauftritte auf dem ganzen Kontinent, aber keinen besonderen Ehrgeiz, ihre Berufung mit den allerhöchsten Weihen zu dokumentieren. So begnügte sie sich damit, immerhin, den Rang einer OP anzunehmen und legte sich den Titel Freyja zu.

Es ist schon sonderbar, dass die Gemeinde der großen Liebesgöttin sich mit dem Arrangement zufriedengab und eine anzubetende menschgewordene Version ihrer obersten Gottheit zu ihrem Funktionieren nicht unbedingt voraussetzte. Vielleicht brachten aber auch die Jüngerinnen und Jünger Ubgarvans einfach deswegen nicht genügend Disziplin auf, organisatorisch-institutionell voranzukommen, weil sie in ihren Zusammenkünften durch die Realpräsenz der Göttin zu abgelenkt waren. Schon Poukirmo, der zweite Prophet, sagte ja in seiner Farbenschau so richtig: „rot unangenehm - gefühlvoll beladen - methode von etwas - das nicht bedacht (vgl. quipadem 11301).“

Wetok Weya, 1946 Ares

Im Jahre 1946, zu einer Zeit also, als sich das Prozedere um die Bestätigung der HPschaft, gesteuert von den mal mit, mal gegeneinander agierenden Hekaten, längst zur Routine entwickelt hatte, war es ein Maskulinum, das sich zum HP aufschwang, selbstreden nicht dem der Ubgarvan selbst, wohl aber des ihr vergesellschaftet angenommenen Iklacaran, Wetok Weya sein Name. Er blieb nicht allzu lange der unumschränkte Anführer.

Fohamdona Daśa, 1950 Freyja II

Während Ares zumeist in Anguram selbst umherlichterte und weitgehend nur seiner Libido frönte, hatte sich im nicht allzu fernen Banasheyo Freyja genervt von dem Trubel um den ihr gewissermaßen übergeordneten Liebesmacker abgewendet und daran gearbeitet, in ihrem engeren Kreise eine kompetente Vertreterin und perspektivische Nachfolgerin aufzubauen. Sie wurde 1950 als OP zur Freyja II berufen.

Orudoth Hipken, 1965 Aphrodite, Inkarnation 31. Juli 1965

Und dann hatte die große Göttin im Jahre 1965 ein Einsehen und fuhr in Orudoth Hipken als einer Spätberufenen ein. Nicht dass sie in Lebensjahren mit 100 besonders alt gewesen wäre, aber ihre Inauguration fand statt, nachdem sich sowohl die erste Hekate, als auch die erste Athene schon aufs Altenteil zurückgezogen hatten. Die Göttin hatte aber gewiss ihre Gründe, die richtige Zeit und die richtige Person abzuwarten und hatte keinen Bock, sich in irgendjemanden zu inkarnieren.  Es gab auch in der Tat niemanden, der die Vergöttlichung Orudoth Hipkens ernsthaft in Zweifel gezogen hätte. Mit allen Insignien ausgestattet und als Aphrodite tituliert, bereiste sie den Kontinent, becircte mit ihrem umwerfenden Charme Gläubige wie Ungläubige, sorgte für gewaltigen Zulauf und brachte Spielarten des Hedonismus und der allgemeinen Libertinage zum Aufwallen, die Vertreterinnen und Vertreter anderer Glaubensrichtungen sowie auch anderer gesellschaftlicher Institutionen in Aufruhr versetzte. Ares wurde dabei schlicht an den Rand gedrängt, zu Wohlverhalten bestimmt und durfte froh sein, nicht exkommuniziert zu werden.

Ohum Sotkawo, 1979 Ares II

Weil aber die Chemie zwischen den beiden nicht dauerhaft tragfähig war, wurde er letztlich doch kaltgestellt. Aphrodite tat sich im Jahre 1979 mit Enyo, ihres Zeichens HP der Ehsdarlan zusammen, um in schöner, nachgerade göttlich-geschwisterlicher Einmütigkeit einen Nachfolger zu bestimmen, Ohum Sotkawo als Ares II. Das baat durfte Ares I als der Erstbedachte behalten. Hier zeigt sich, dass es als Symbol der Macht auch nicht überbewertet werden sollte.

Horkarut om Laraśan,1994-2011 Aphrodite II

Eher eine Randnotiz und Zeichen von Hybris und/oder geistlicher Verwirrung stellt der Versuch der Horkarut om Laraśan dar, einer Adeptin des eher dunkleren Pfades im Spiel der Geschlechter, eine HP-Berufung als Aphrodite II zu inszenieren. Sie sammelte auch tatsächlich eine gewisse Anhängerschaft Gleichgesinnter, gewann aber während ihrer fortgesetzten Kampagne letztlich doch die Einsicht, irgendwie fehlgeleitet zu sein und gegen die Göttin selbst und ihre wahre Inkarnation nicht ankommen zu können. Und weil die Khras zwischenzeitlich ein ziemlich dichtes Netz zur Verbrechensverhinderung geknüpft hatten, eine Beseitigung der unliebsamen Konkurrentin also außer Betracht bleiben musste, klopfte sie schließlich im Haus der Aswiran an, wo es ohnehin turbulent zuging, und konvertierte unter dem Titel Amphitrite VI.

⑰ Yrhan

Um die Hintergründe der Schiefer-Grau-Verwechselung und die Person der Ma-ugo Sdusteno verstehen zu können, ist es doch angezeigt, kurz auf die gesamtgesellschaftliche Situation auf Okhogondos einzugehen. Der unserer Zivilisation eigentümliche Staatlichkeitswahn war dort längst Teil einer weit zurückliegenden, nur wenigen Geschichtsinteressierten bekannten Vergangenheit. Es gab die kommunalen und die syndikalen Zusammenschlüsse, Parlamente zum Austausch von Meinungen und zum Herbeiführen von Grundsatzentscheidungen und daneben auch abgeschlossene Zirkel, Geheimgesellschaften, in denen politische Maximen und ideologische Wahrheiten gehütet wurden, darunter durchaus auch militante Orden. Im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen wurden diese durch Freiwilligenarmeen verstärkt. Vor allem aber waren es die religiösen Verbände, die Rahmenbedingungen für Handel, Wirtschaft und Austausch aller Art festlegten. Auch schon in Zeiten des Universalismus hatten sich unter dem Dach der Religion Kerne herausgebildet, um die sich an Medizin und Wissenschaft Interessierte ebenso gruppierten, wie andererseits Kunstbeflissene aller Art. Es gab freiwillige Feuerwehren und große Syndikate, die Verkehrsnetze, Wasserleitungen und die Energieversorgung in Gang hielten. Seit der Invasion brachen über diese Strukturen gewaltige Änderungen herein. Die Bedeutung von Landwirtschaft und Massenguttransport ging zurück, Nahrung wurde zunehmend ohne Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen hergestellt und die Kommunikation wurde auf gänzlich neue Art gewährleistet. Aber während hier durch Neuorientierung, Stichwort Landschaftspflege und Reparatur- und Wartungsarbeiten doch nennenswerte Funktionen erhalten blieben, waren zwei Institutionen, die solchen staatlicher Provinienz noch am ehesten entsprochen hatten, am Stärksten betroffen und abrupt zum Aussterben verurteilt:  Polizei und Justiz einerseits und die Gewährleistung eines Zahlungssystems andererseits. Letzteres beruhte vor der Bereitstellung sogenannter Cargos als fälschungssichere Zahlungsmittel, Produkten der khrassitischen Hochtechnologie, auf einem fein abgestimmten Instrumentarium auf der Basis von Obligationen, für das eine ausgeklügelte Dokumentation unterhalten worden war.

Für den anderen Bereich schwand der Bedarf ebenfalls. Die Khras hatten mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie mit ihren technischen Mitteln, insbesondere insektenkleinen automatisch agierenden Überwachungsdrohnen, fast jedes Fehlverhalten zuverlässig ermitteln konnten und in langen Verhandlungen, oft unter Federführung der Athene, war vereinbart worden, dass sie auch die Sanktionen gegenüber den Tätern nach einem abgestuften Katalog durchführen sollten. Die Strafen bestanden überwiegend in zeitlich befristeter, in schweren Fällen auch unbefristeter Verbannung und Einsatz zur Unterstützung interstellarer Forschungsmissionen. Diese Verwendung von Delinquenten zur weiteren Wissensmaximierung führt übrigens dazu, dass immer wieder auch unbescholtene Bürger Anträge auf Verwendung bei derartigen Einsätzen stellen. In gewisser Weise sind sie damit Vorboten einer auch individuellen Integration in den intergalaktischen Verbund, den wir als khrassitisches Imperium kennen. Sie werden damit selbst zu Khrassiten. Dies ist aber wieder eine ganz andere Geschichte.

Ma-ugo Sdusteno, 1862-1980 Nemesis, Offenbarung 3. Januar 1862

Ma-ugo Sdusteno jedenfalls war von Haus aus Polizistin. Sie war eine Gerechtigkeitsfanatikerin durch und durch, hatte als Kind Traumata erlitten und sah sich als Rächerin. Sie war aber auch intelligent und aufgeschlossen genug, sich mit den philosophischen Kernfragen nach dem Wesen von Wahrheit und Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. So war es für sie selbstverständlich, dass sie die Yrhanan als ihre Göttin annahm, die auch allgemein in den Bereichen von Polizei und Strafvollzug sehr populär war. Ihre Farbe kommt in den Neunerdiagrammen nicht vor, sondern erst in Erweiterungstableaus in den äußeren Bereichen und wird dort zumeist als „schiefer“ bezeichnet.

Als im Jahre 1858 der Hype um die sich in Banasheyo manifestiert habende Liebensgöttin Fahrt aufnahm und während desselben Umlaufs die okhogondisch-khrassitische Vereinbarung zur Strafverfolgung unterschrieben wurde, sah sich Ma-ugo ihrer Profession beraubt und erkannte zugleich, dass das neue System die Ungerechtigkeit natürlich in keiner Weise aus der Welt schaffte. Es gab weiter Armut und es gab auch weiterhin ständig Übergriffe. Es gab unverändert Täter und Opfer, aber eben unterhalb der strafbewehrten Normen. Sie sah daher gleichzeitig in einen persönlichen Abgrund, weil ihr die Existenzberechtigung geraubt war, und einen gesellschaftlichen, weil es – zumindest war das ihr Eindruck zu dieser Zeit – niemanden mehr gab, der sich für Gerechtigkeit über das bloße Ahnden krimineller Verfehlungen hinaus einsetzte. In dieser Gefühls- und Gemengelage hatte sie ihre Offenbarung, sah die Göttin und fühlte sich beauftragt, eine ganz neue Form religiöser Betätigung zu entwickeln und die entsprechende Organisation ins Leben zu rufen. Ein Jahr später weihte Hekate sie zur HP der Yrhanan mit dem Titel Nemesis und verlieh ihr das baat.

Vargun Hleazit, 1901 Hades, Erscheinung 14. Februar 1901

Im Jahre 1901 hatte der 89jährige Vargun Hleazit seine Erscheinung. Ihm offenbarte sich nach eigenem Bekenntnis ein etwas gruseliger Zeitgenosse, dem er, wie er meinte, nur ungern im Dunkeln begegnen wolle. Dem begann wohl der Nachschub für die von ihm betreuten Strafbataillone auszugehen und hatte eigentlich nach jemandem gesucht, der sich als sein HP der Asmakratan partnerschaftlich andienen sollte.  Vargun, obwohl nicht sicher, ob er seine Laufbahn wirklich an die Vorstellung eines Höllengottes knüpfen sollte, andererseits geschmeichelt, zu den wenigen Auserwählten einer echten Gottheit zu gehören, trug das Problem den Hekaten I bis III vor, die ihn an Nemesis weiterreichten.

Diese sah ein, dass rein theologisch betrachtet und weil sich die Göttin des Todes, der Kälte und der Finsternis noch nicht offenbart hatte, Yrhanan als strafende Göttin wohl am ehesten geeignet war, einem Gott der Unterwelt und zuständig für die Läuterung verlorener Seelen eine Heimstatt zu bieten. So wurde Vargun Hleazit zum HP des Aplakan und nahm zusammen mit dem baat den Titel Hades an.

Royu Enaś, 1980 Nemesis II, Ämtertausch 31. Januar 1980

Ma-ugos Ära als Nemesis währte 118 Jahre. Sie fühlte sich in der selbst angestrebten Rolle nicht wohl, sie scheiterte mit ihren Anliegen, ständig lag sie mit ihren Einschätzungen daneben, es war zum Verzweifeln. Da begab es sich im Jahre 1980, dass sie mit Hera zusammenkam, der Chefin eines weltweit operierenden Unterhaltungsimperiums. Hatten beide in der gleichen Stadt zu tun und als Mit-HP trifft man dann halt einander und pflegt small talk. Diesmal aber sprang irgendwie eine Funke über und die beiden fassten Vertrauen ineinander und klagten sich gegenseitig ihre Unzufriedenheit. Hera hatte in den letzten Jahren viel an Strahlkraft eingebüßt, es hatten Jüngere begonnen, ihr ihren Rang streitig zu machen und es gab zwischenzeitlich bereits zwei weitere Heren, II und III. Es war aber nicht nur das. Dazu kam das Gefühl, im falschen Film zu sein. Sie hatte erhebliche Zweifel an der Göttlichkeit des Auftrags und fragte sich, ob seinerzeit statt eines Befehls zum Weiter, Schneller und Größer nicht ein Kommando zum Stillstand, zur Einkehr und dazu, etwas Neues und Anderes zu beginnen, angebracht gewesen wäre. Umgekehrt hatte sich Nemesis all die Jahre nach etwas anderem gesehnt, als sich mit Fragen von Ethik und Moral abzuplagen, darüber zu grübeln, wie Gerechtigkeit zu verwirklichen sei und ob etwas und wenn ja, was eigentlich die Menschen nach dem Tode erwartete.

Wie man manchmal vielleicht im Scherz einen Rollentausch vorschlägt, so auch die beiden. Dann aber fiel es ihnen wie Schuppen von den Augen. Sie verglichen noch einmal ihre Offenbarungen. Keiner hatte sich die Göttin namentlich erklärt. Keine war inhaltlich auf einen bestimmten Weg gewiesen worden. Es waren beeindruckende Erscheinungen gewesen, die aber  - nach dem langen zeitlichen Abstand fiel es leicht, sich auch emotional davon etwas abzukoppeln – eigentlich nur ihre Präsenz, ihre Existenz als eine solche verkündet hatten. Und deren Farbe sie in späterer spekulativer Ausdeutung und zwar ihren eigenen Wünschen und Erwartungen entsprechend als schieferfarben im einen und grau im andern Fall interpretiert und danach die göttlichen Wesen als Yrhanan und Olwigan interpretiert hatten. Jetzt, im Alter von 218 Jahren die eine und 176 die andere erkannten sie ihren Irrtum. Sie hatten sich zu HP der jeweils falschen Göttin erklärt und ernennen lassen!

Gut, es gab ein paar Kommunikationsprobleme. Anhängern und einem weltweiten Publikum musste der Wandel vermittelt werden. Aber von der Sache her gab es keinerlei Schwierigkeiten. Royu Enaś, bisherige Hera I wurde zur Nemesis II und Ma-ugo Sdusteno, bisherige Nemesis I durfte sich fortan mit dem Titel einer Hera IV schmücken, von ihr später noch ein wenig mehr.

Nemesis II legte ihre bisherige Attitüde keineswegs gänzlich ab, sie gefiel sich nicht in Duckmäusertum und Graue-Maus-Allüren. Sie blieb die manifestierte Göttin, nur eben auf einem anderen Schauplatz. Was konnte eine Yrhanan von ihrer Inkarnation erwarten, was die erste Nemesis, immerhin ausgebildete Polizistin und eifrige Verfechterin des Gerechtigkeitsgedankens und noch dazu bereit gewesen, sich auf tiefsinnige metaphysische Betrachtungen einzulassen, ihr offenbar nicht hatte geben können und wofür sie einen Bühnenstar rekrutiert hatte?

Wir wollen hier abbrechen und uns nicht langatmig mit der jüngsten Vergangenheit befassen und dabei die großen Entwicklungslinien aus den Augen verlieren. Angedeutet sei lediglich, dass mit der zweiten Nemesis die große Zeit der Mysterienspiele einsetzte, dass großartige Werke inszeniert wurden, die sich nicht zu seichter Unterhaltung und dem Bedienen unausgegorener Klischees eindampfen und zurechtbiegen lassen und die vielmehr das Herz und die Sinne gleichermaßen ansprechen und in Wallung bringen, wie den Verstand befriedigen und im Ergebnis einen tiefen Frieden vermitteln, ganz große Kunst eben, von der wir Zeitgenossen noch manches erhoffen und erwarten dürfen.

⑨ Uripa

Mhounga Oryonaś, 1863-1981 Hestia I, Offenbarung 2. Januar 1863, Tod 3. Juni 1981

Im schönen Jahr 1863 hatte Mhounga mit 84 Jahren die weiterführenden Abschlüsse in Sachen Telekommunikation absolviert und sah eine interessante Laufbahn vor sich, die Raumflüge mit Khras-Schiffen zu den Satellitenflotten zwecks Wartung ebenso einschließen würde, wie das Studium der Naturwissenschaften von Grund auf. Sie war Technikerin mit Leib und Seele und außerdem von dem Wissen der Aliens fasziniert, das zur Hoffnung Anlass gab, irgendwann zu verstehen, wie das Universum im Großen wie im Kleinen tickt. Die althergebrachten Riten und Gewohnheiten ihrer Freunde und Nachbarn akzeptierte sie aus Höflichkeit, sah sich inwendig aber weit darüber erhaben. Eltern hatte sie keine, Vollwaise, Unfall.

Und ausgerechnet sie hatte dann natürlich eine Göttin ausgeguckt, um sie mit ihrem Blödsinn aus der Bahn zu werfen und unglücklich zu machen. Das mit dem Unglück konnte aber auch daran liegen, dass der Gegenstand ihrer ersten und wahren Liebe ihre Gefühle schnöde zurückgewiesen hatte. Die Göttin war irgendwie gelb oder goldfarben, hatte ihr heimelige Geborgenheit vorgegaukelt, war dann wohl angesichts ihres Gefühlschaos‘ zurückgewichen und hatte weiter nichts hinterlassen, als die Gewissheit, dass nun alles anders werden würde.

Nachdem sie sich an die örtlich nächstliegende Gemeinde gewendet hatte, es waren Ilsarpaner, wurde sie direkt an die beiden damals einzigen relevanten HP durchgereicht, die sich ihrer liebevoll annahmen. Die in Frage kommende Göttin war schnell identifiziert. Die HP konnten sie beruhigen und ihr erklären, dass nicht jeder Fall einer derartigen Begegnung einen unmittelbaren Respons verlangte, sie solle einfach weitermachen wie bisher und abwarten, was noch kommen würde. Zur Sicherheit bekam sie den Titel Hestia, erhielt das baat und wurde zur HP der Uripan, einer Gottheit, die wohl ursprünglich für das Herdfeuer zuständig gewesen war, es aber immerhin geschafft hatte, den einzigen männlichen Gott von erheblicher Bedeutung von den zu murmelnden oder auszumalenden Listen und Schaubildern zu verdrängen. Irgendwie hatte sie damit auch viele seiner Eigenschaften und Befugnisse gekapert.

So etwas sprach sich schnell herum und es bildete sich um Hestia eine kleine Gemeinde von, wie sagt man, Uripanern. Davon bekamen bald auch ihre khrassitischen Arbeitgeber Kenntnis und fanden es spannend. Irgendwo in den Tiefen des Alls bei irgendeiner Zentralinstanz reifte der Plan, durch Hestia Näheres über die eigenartigen Inkarnationsvorstellungen der Anguramer in Erfahrung zu bringen, das Phänomen also erstmals wissenschaftlich zu untersuchen. Bisher hatte man sich, wenn sich Vorgänge nur im Hirn der Betroffenen abspielten, mit dem Begriff Wahnvorstellung zufriedengegeben, natürlich wesentlich komplexer ausgedrückt und Khras ist ohnehin eine schwierige Sprache. Wahnvorstellung ist jedenfalls die vereinfachte Übersetzung und zwar die höfliche Variante. Psychoklatsche wäre eine andere. Und für Phänomene, die sich auch anderen mitteilten, gab es den schönen Begriff der Massensuggestion. Zumeist waren aber Menschen, die sich als Inkarnation einer Gottheit ansahen, wie ja auch die allseits geehrte und geschätzte Meinungs- und Verhandlungsführerin Athene, in der Tradition ihrer Gemeinschaft aufgewachsen und von gläubigen Anhängern der Gottesvorstellung erzogen worden und es war deswegen naheliegend, dass sie irgendwelche Störungen ihrer Synapsen in den Begriffen ihrer Kultur interpretierten. Auch gehörten HP zu den mächtigsten Vertretern der planetaren Bevölkerung, waren in den relevanten Strukturen extrem vernetzt und konnten nicht einfach zu Studien herangezogen werden.

Mit der neuen HP war dem zuständigen Khras-Psychologenteam ein Studienobjekt in den Schoß gefallen. Ohne gegen die eigenen hohen moralischen Grundsätze zu verstoßen, ließ sich hier trefflich herumdoktern. Hestia war ja freiwillig zur Mitarbeit bereit und selbst interessiert, die Art ihrer Verzauberung zu verstehen. Der maßgebliche Wissenschaftler, wir führen hier zum ersten mal ein Khras-Individuum als Person ein und gehen davon aus, dass er männlichen Geschlechts ist, mit dem schönen Namen Bolhols, war nicht böse, nur neugierig. Nicht alle Angehörigen des Imperiums sind Humanoiden, Bolhols ist es keinesfalls. Die geneigte Leserin möge sich einfach ein Oval mit Ausstülpungen denken, von denen einige als Träger von Augen, andere als Greiforgane und eine dritte Sorte zur Fortbewegung dienen. Bolhols ist aber nicht abstoßend und man gewöhnt sich schnell an seine Andersartigkeit.

Jetzt habe ich mich aber verplaudert und war fast in Versuchung, eine Illustration beizufügen obwohl uns die weitere Konzentration auf diesen Nebenschauplatz völlig vom Thema abbringt.

Der Khrassit ging die Sache grundsätzlich und vor allem nüchtern-wissenschaftlich an. Die Tatsache, dass die frisch gebackene HP kaum mit den tradierten Vorstellungen ihrer Spezies in Berührung gekommen war und trotzdem ein solches Erlebnis berichtete, ließ es nicht völlig ausgeschlossen erscheinen, dass es doch irgendwelche psychokinetisch zu erschließende Räume oder Dimensionen, Übertritte in ein Paralleluniversum geben möchte, von dem fantasiebegabte Autoren vieler Kulturen seit je zu berichten wussten. Zugleich gab es ja in der Physik manch spukhafte Phänomene wie Quarkverschränkungen und die überlichtschnelle Raumfahrt unter Nutzung von Wurmlöchern war längst erprobte Alltagserfahrung, sonst wäre man nicht hier. Auch die Tachyonenkommunikation, die die Rückfrage in der Zentrale und den Erhalt der entsprechenden Anweisung erst möglich machte, nutzte irgendwelche eingeschrumpelten Dimensionen. Er war zu wenig Physiker, um das wirklich zu verstehen, aber er wollte nicht ausschließen, dass es auf irgendwelchen Ebenen Wesenheiten gab, die unter bestimmten Voraussetzungen in unser Raum-Zeit-Kontinuum hinüberzuwechseln imstande waren. Bevor er aber daran ging, eine derartige Hypothese, die geeignet sein mochte, seinen Ruf als Wissenschaftler dauerhaft zu ruinieren, ernsthaft aufzustellen, musste er natürlich Tests aller Arten und Güteklassen ins Werk setzen und konnte seiner Probandin das eine oder andere Ungemach nicht ersparen.

Die Khras hatten eine Medizin-Box entwickelt, in der säugetierartige Wesen fast vollautomatisch gescannt, auf Disfunktionalitäten untersucht und in vielen Fällen fast ebenso vollautomatisch wieder hergestellt werden konnten. Mittels Laser und Schallresonanz ließen sich in solchen Kisten auch hirnchirurgische Eingriffe realisieren, ohne dass der Anwender dafür medizinisch besonders ausgebildet sein musste. Ein wahrer Segen, von dem man sich anschickte, den Gebrauch auch den Okhogondern möglich zu machen und so ihr Gesundheitssystem wie manches andere zu revolutionieren. Bolhols jedenfalls hatte Zugriff auf ein solches Gerät und steckte die Hestia mit ihrer sorgfältig protokollierten Zustimmung hinein.

Schon wieder ertappe ich mich bei Abschweifungen und entschuldige mich dafür. Sie, werte Leserin, wollen ja endlich über die spannenden kirchengeschichtlichen Entwicklungen auf dem Laufenden gehalten werden.

Ich erwähne nur kurz, dass die Göttin während der nächsten 87 Jahre keine Anstalten machte, irgendeine der sorgfältig ausgeklügelten Versuchsanordnungen mit ihrer Anwesenheit zu beehren.

Es ist nicht so, dass Hestia darüber alt und grau wurde. Sie war ja nicht eingesperrt und die Versuche blieben auf einzelne Phasen begrenzt.  Sie blieb eine junge tatkräftige Frau, arbeitete weiter, lernte weiter, hatte Freunde und blieb als HP weiter Mittelpunkt einer kleinen, aber feinen Gemeinschaft, die mit ihr über das Wesen der Theophanie philosophierte. Sie flog aber nicht zu den Sternen, nicht einmal zu den Satelliten, sie besuchte keine extraokhogondische Universität und war oft todunglücklich. So haben wir sie ja aber schon am Anfang kennengelernt.

Rom Khia, 1908 Dionysos

Rom Khia war schon 103 als er im Jahre 1908 in Anguram dem Kreis der Uripaner beitrat. Er stammte von einer fernen Insel, Enath, von der kein Anguramer jemals gehört hatte und sprach ein schauderscheußliches Anguram, das er mit rezischen Brocken durchsetzte. Dabei konnte jeder halbwegs Gebildete heraushören, dass auch Rezi nicht seine Muttersprache war. Dieser Mann war Handwerker, eine Art Klempner. Seine Fähigkeiten waren nur noch bei Leuten nachgefragt, die in altertümlichen, sprich Behausungen von vor der Zeitenwende lebten. Neue Gebäude hatten bereits die nachhaltigen und praktisch unkaputtbaren Installationen, die die Khras großzügig zur Verfügung stellten. Beruflich war für ihn bei Hestia natürlich nichts zu holen, die ja selbst eine halbe Khras war und dank ihrer ganz besonderen Beziehungen zu den Fremdweltlern über alle modernen Annehmlichkeiten selbstverständlich verfügt.

Außerdem aber war Rom begeisterter Amateur-qyi-Spieler, der eine Begabung dafür hatte, seine Mitmenschen mit seinem Enthusiasmus anzustecken und zum Mitmachen zu bewegen. Ja, Okhogondos kennt auch den Sport, sowohl zur individuellen Ertüchtigung zwecks Gesunderhaltung, als auch in Form massenbegeisternder Eventveranstaltungen, wobei dem Mannschaftssport qyi, einer Art Fußball, die Hauptrolle zukommt. Daneben ist aber auch das orhobagha, ein Kampf von zwei Gegnern, die einen Ball hin- und herschlagen, ähnlich dem Tennis, sehr populär.  Hestia ließ sich anstecken und es kam, wie es kommen musste, die beiden lernten sich näher kennen, wurden ein Liebespaar und obwohl Rom keine göttliche Begegnung hatte, wurde er, seitens der irgendwie schuldbewussten Athene und natürlich unter Einschaltung der Hekaten I bis III sowie der Hebe als zuständiger Sportministerin, Rom hatte sich ja um die Förderung des Breitensports verdient gemacht und dazu mit den Aminksanerinnen engen Kontakt aufgenommen, zum HP des Asdralan mit dem Titel Dionysos berufen, komplett mit baat. So wurde Hestia doch noch ziemlich glücklich und lediglich die Tatsache, dass sie ihren großen Traum vom Aufbruch in neue Welten letztlich aufgegeben hatte und die fruchtlosen und zermürbenden Experimente in der khrassitischen Medizin-Box bewirkten, dass sie gleichwohl hin und wieder zu depressiver Verstimmung neigte.

Eshime Omhka, 1950 Hestia II, Inkarnation 11. Dezember 1950, baat-Übertragung 15. Juni 1981

Eshime Omhka ist eine rundherum starke Persönlichkeit. Schon mit 80 Jahren war sie in das Leitungskomitee des anguramischen Fernwärmesyndikats gewählt worden. Als solche hatte sie natürlich auch mit den Khras-Ingenieuren zu tun und half als Technikerin dabei, deren Anlagen mit den vorhandenen althergebrachten Strukturen zusammenzuführen. Zugleich interessierten sie aber auch die khrassitischen Vorstellungen über das gesellschaftliche Miteinander und die Organisation komplexer Zusammenhänge im Allgemeinen. Ihr besonderes Augenmerk richtete Eshime aber auf das Erkennen und die Bekämpfung von unterschwelliger Diskriminierung und war stets als Kämpferin an vorderster Front dabei, wenn es galt, gegen Ausbeutung und Unterdrückung aufzubegehren. Denn es hatte sich gezeigt, dass die „Pax Khrassia“ in diesen Bereichen keine wirkliche Abhilfe schaffte.

In Sachen Religion war sie eher lau und hatte keinen großen Begriff von Spiritualität und dem ganzen Klimbim. Hätte man sie gefragt, wer eigentlich die Uripan sei, hätte sie nach einigem Zögern wahrscheinlich richtigerweise auf die Kamingöttin getippt. Das hinderte aber diese in Person nicht, im Jahre 1950 in sie einzufahren. Dieser Kontakt war klar und deutlich und der Auftrag sehr bestimmt: „Gehe zur Hestia, beende ihre Sitzungen und sei ihr eine gute Freundin.“

Eshime tat wie ihr geheißen, die Experimente am lebenden Gehirn unterblieben und es gab fortan zwei Hestien. Als weitere HP der Uripan war es Hestia II, die eine wirkliche Gemeinschaft von Freunden gegen Ausbeutung und Unterdrückung formte und Dionysos half ihr dabei.

Baneyi Meramen, 1968 Dionysos II

Baneyi ist an dieser Stelle nur zu erwähnen. Seine Bestallung als weiterer HP des Dionysos wurde von einem Quartett ausgeheckt, bestehend aus Hestia I und II und Hebe I und II. Davon an anderer Stelle mehr, wenn es um das Haus ⑬ geht.

Jetzt kommt der traurige Teil. Hestia I starb im Jahre 1981. Sie wurde 202 Jahre alt. Äußere Ursachen wurden nicht festgestellt. Manche sagten und sagen es noch, dass ihr früher Tod auf den fortwährenden Einsatz der Medizin-Box zurückzuführen ist und machen die Khras dafür verantwortlich. Es gab sogar fremdenfeindliche Umzüge gegen die galaktischen Wohltäter. Gegen diesen Unsinn wurde aber von Hestia II energisch eingeschritten. Bei einer Trauer-Zeremonie am offenen Grab, während der ihr zugleich das baat hochoffiziell übertragen wurde, hielt sie in einer Ansprache fest, dass zwar derartige Experimente zu verurteilen seien und sich derlei nicht wiederholen dürfe, dass aber die Kooperation mit den Khras Okhogondos den Frieden sichere und die lauteren Absichten der Außerokhogonder nicht in Zweifel zu ziehen seien.

Bolhols, 1981 Bolhols I, Heimsuchung 3. Juni 1981

Und schließlich noch der irgendwie saukomische Abschluss.

Nachdem ihm 1950 sein Studienobjekt abhandengekommen war, es hatte sich der weiteren Zusammenarbeit einfach verweigert, hatte Bolhols seinen Ehrgeiz begraben müssen, hatte seine Versuchsanordnungen demontiert und die Medizin-Box dem Gesundheitsdienst zur Verfügung gestellt, um sich wieder ganz auf sein Kerngeschäft zu konzentrieren, die psychologische Betreuung der khrassitischen Entwicklungshelfer vor Ort. Natürlich hatte er die Aufgabe des Forschungsprojekts in einem an die Zentrale abgefertigten Abschlussbericht ausführlich begründet und als Resümee die Schlussfolgerung gezogen, die etwaige Existenz weiterer mehrdimensionaler Ebenen über die der Physik bereits bekannten hinaus sei anhand der aufgelaufenen Daten jedenfalls nicht zu belegen.

Ihm wurde indes nicht vergönnt, diesen unerfreulichen Lebensabschnitt vollständig zu beenden, denn es kam ihm die Ordre aus der mit Fragen mehrdimensionaler Raum-Zeit-Strukturen befassten Wissenschaftskommission beim Zentralrat des galaktischen Imperiums, er möge doch das Datenmaterial bezüglich der Interferenzen hinsichtlich der Neuronenbildung im Bereich der Amygdala einer erneuten Überprüfung unterziehen.

Mit dieser unerfreulichen Arbeit vergällte sich Bolhols mehr als 30 weitere Jahre seines Lebens ohne auch nur zu verstehen, was die neunmalklugen Wissenschaftler beim Zentralrat als Unregelmäßigkeit glaubten festgestellt zu haben und wofür er eine Erklärung finden sollte. Resigniert und bar jeder Hoffnung auf eine glanzvolle Karriere ereilte ihn zeitgleich mit dem Dahinscheiden von Hestia I die Heimsuchung der Uripan. Das Universum hatte sich einen weiteren Joke erlaubt. Bolhols hatte eine Begegnung mit der Gottheit, die weit über eine bloße Vision hinausging und sämtliche seiner Sinne berührte, auch solche, die seiner Spezies eigen sind, für die aber wir humanoiden Plasmamassen keine Begriffe haben. Ihn durchflutete strahlend das Licht absoluter Erkenntnis und er wurde so zum Adepten und Meister zugleich.  Nach Lage der Dinge konnte er wohl kaum zu einem HP/OP berufen werden, eine Art Priester der Uripan aber war er nach diesem kosmischen Erweckungserlebnis doch wohl. Welche Implikationen sich für ihn daraus weiter ergaben, ob er gegenwärtig dabei ist, Versuchsanordnungen zu ersinnen, um sich selbst zu erforschen, oder ob er als Botschafter anguramischen Glaubens in göttlichem Auftrag dabei ist, die Botschaft zu fernen Planeten zu tragen, das weiß ich nicht.

Allerdings scheint es mir jetzt doch angebracht, hier sein Konterfei zu zeigen.

Dunama Yegarom, 2000-2017 Hestia III

Am Aufstieg und der Bestellung der Dunama Yegarom zur HP als Hestia III ist nichts überraschend oder bemerkenswert. Sie hatte sich Zeit ihres ganzen bewussten Denkens in den Reihen der Uripanerinnen entwickelt, wohl gefühlt und nützlich gemacht, so dass die fast 146jährige Hestia II Gefallen an der erst 62jährigen fand und sie sich als Unterstützerin und perspektivische Nachfolgerin wünschte. Ungewöhnlich ist dagegen ihr Ausscheiden, nachdem sie nur relativ wenige Jahre an der Seite der verehrten Kollegin im Amt verbrachte. Sie befand ihre Wirkungsmöglichkeiten einfach auf die Dauer nicht als befriedigend und wandte sich dem großen Thema des Erhalts der Umwelt zu, sie wechselte also ihre Gottheit, indem sie zur Aracan konvertierte und nahm als deren zweite Ko-Vorsitzende den Titel Artemis III an.

② Olwik

Royu Enaś, 1890-1980 Hera I, Begegnung 21. November 1890

Mit Ankunft der Khras hatte sich auch die ganze Palette elektrisch-elektronischen Schnickschnacks zu etablieren begonnen, also Kino, TV, Internet usw. Auf Okhogondos wird aber das klassische Format, sprich es treten leibhaftige Darsteller auf einer Bühne vor ein Publikum, weiter gepflegt. Ein großer Star dieser Performances war die Schauspielerin Royu Enaś. Als sie sich im Jahre 1890 einer grauen Gottheit konfrontiert sah, die verlangte, sie solle ihr als ergebene Jüngerin nachfolgen, konnte sie mit der Aufforderung zunächst wenig anfangen, bequemte sich aber nach eingehender Unterrichtung dazu, in ihrer Göttin, die sie offenbar selbst verkörpern sollte, die Olwigan zu erkennen. Von dieser hieß es, sie sei „spät erst zur Gottheit gereift, [habe] nie ganz sich vom Urgrund gelöst, grau auf grau (apokryph).“

Royu gefiel es, sich als eine Art Himmelskönigin zu sehen, sich vorzustellen, sie würde auf einem hohe Berge thronen, auf dem Dach der Welt gewissermaßen, was ja ihrem ohnehin errungenen Startum entsprach. Nachdem sie zur HP der Olwigan mit dem Titel Hera ordiniert war und das baat empfangen hatte, begann sie – von einschlägig versierten Beratern umgeben – von den neuen technischen Möglichkeiten den vollen Gebrauch zu machen und war fast sechs Jahrdutzende lang die ganz große Pop- und Dancing Queen, die unangefochtene Großmeisterin von Musik und Tanz.

Madańol, 1934 Frigg, Konversion 29. September 1934

Madańol gehörte zu dem kleinen Kreis der banasheyischen Universalistinnen um Nerthus. Sie war zur Physiotherapeutin ausgebildet worden und arbeitete in einer Rehaklinik. Ausgerechnet diese spezialisierten Stationen aber gehörten zu den ersten, denen die Khras den Segen der medizinischen Revolution angedeihen ließen. Im Jahre 1934 gab es zwar erst wenige der sagenhaften Medizin-Boxen, manche nannten sie respektlos auch Kochkisten, doch die Klinik hatte schon eine und nach und nach wurden viele Patienten wieder voll funktionsfähig und Madańol konnte absehen, dass Fachkräfte ihres Metiers bald nicht mehr gebraucht würden.

Da beschloss sie, aus ihrem bisherigen Hobby ihre neue Profession zu machen. Als Mitglied einer Laienschauspieltruppe drängte es sie nach dem Rampenlicht. Sie wusste aber auch um den Wettbewerb um stets knappe Ressourcen, von den organisatorischen Leistungen, die erbracht werden mussten, wenn es einen Zeitplan einzuhalten gilt und konnte die oft sehr eigensinnigen und leicht eingeschnappten Ensemblemitglieder bei Laune halten. Mit diesen Fähigkeiten bewaffnet bewarb sie sich bei der olwiganischen Dependance ihrer Heimatstadt, erfuhr freundliche Resonanz, wurde der Chefin vorgestellt. Und obwohl sie eine glühende Verehrerin Phoibes war, konvertierte sie und Hera machte sie binnen kurzem zur OP von Banasheyo und verlieh ihr den Titel Frigg.

Für Hera war der absolute Höhepunkt im Jahre 1957 mit der Aufnahme ihres Partners in die Gemeinschaft gekommen. Während nun er das ganz große Kino entfaltete, hatte sie das Gefühl, ihre Karriere ihrer Liebe geopfert zu haben. Sie war weniger gefragt und es war ihr egal. Sie ließ sogar zu, dass sich neben ihr weitere HP etablieren konnten.

Vlaaq Banośa, 1957 Zeus

Wir haben Zeus schon kennengelernt. Schlaue Leute, die es hinterher schon immer besser gewusst haben, weisen gern drauf hin, dass der von Hekate I und eben unserer Hera im Jahre 1957 inthronisierte Zeus bereits die volle Erkenntnis darüber hatte, dass es zu einer Verwechselung bei einer seiner beiden Patinnen, oder muss man Maten sagen, gekommen war, denn als Personifikation des Gottes, der im Himmel droben bei Wetter und Sturm, vor allem im Gebirge, seiner Auserwählten dabei assistiert, die Wolken über das Land zu schieben, konnte die wahre Natur der Hera als Adeptin der Yrhanan und nicht der Olwigan nicht verborgen geblieben sein. Diese Leute vergessen, dass jedenfalls der griechischen Mythologie zufolge, Hades durchaus auch als der unterirdische Zeus angesehen werden kann und die Naturen der Weggefährtinnen der beiden Brüder so gegensätzlich also nicht zu sein scheinen.

Es war jedenfalls eine strahlende Hera, die den von ihr entdeckten und geförderten Vlaaq als Zeus erkannte und der Hekate als von beiden anzunehmenden HP vorschlug. Sein Erfolg gab ihr Recht und riss auch nach dem Jahre 1980 nicht ab, als der Geliebte auf einmal die bisherige Nemesis zur Begleitung erhielt bzw. sie ihm vor die Nase gesetzt wurde.

Zanoram Danena, 1961 Hera II

In ihrer Honeymoonzeit hatte Hera die Geschäfte vernachlässigt, war immer seltener bei wichtigen Konferenzen anwesend, kaum dass sie ihre Lieblingsbeschäftigung, die Schauspielkunst, noch hinreichend professionell ausübte. Da traf es sich gut, dass auch anderer Mütter Töchter reüssierten und eine davon, die künstlerisches Talent mit wirtschaftlichem Geschick trefflich zu verbinden wusste und sich auch auf das Netzeknüpfen verstand, Zanoram Danena, wurde 1961 zur Mitregentin und HP der Olwigan mit dem Titel Hera II erhoben.

Luśam Leq, 1975 Hera III

Ihr folgte 1975 als Hera III die Luśam Leq. Ebenfalls eine erfolgreiche Schauspielerin, die noch dazu eine, wir würden sagen, Rockband gegründet hatte, deren Auftritte und Aufnahmen phänomenalen Anklang fanden. Die beiden neuen Heren schickten sich an, den Laden komplett zu übernehmen und einen gigantischen Unterhaltungskonzern daraus zu machen. Irgendwelche wie auch immer geartete religiösen Komponenten waren nicht zu erkennen, außer vielleicht in dem Verdienst, ganz neue Fassungen der altvertrauten Lieder- und Gebetssammlungen auf den Markt gebracht zu haben, deren für und wider von Kunstkennern wie Altgläubigen noch heute heftig umstritten ist.

Ma-ugo Sdusteno, 1980 Hera IV, Ämtertausch 31. Januar 1980

Von Ma-ugo und wie sie zur vierten Hera wurde, haben wir bereits ausführlich vernommen, Stichworte Polizistin und die Verwechselung von schieferfarben und lichtgrau. Als Trägerin des baat riss sie unverzüglich das Heft des Handelns an sich, stellte ihre Mit-HP mehr oder weniger kalt, ließ ihnen aber durchaus künstlerische Freiheiten, gern in Zusammenarbeit mit ihrer früheren Chefin, der jetzigen Nemesis II und konzentrierte sich ansonsten darauf, die Gemeinschaft mit Projekten zu befassen, die ihrem ursprünglichen Anliegen, Wahrheit und Gerechtigkeit, Raum und Geltung zu verschaffen, entsprechen. Hera IV ist Patronin und Mäzenin vieler Kunstschaffender, die diese Anliegen teilen und arbeitet zum Beispiel gern mit den in der Vergangenheit so verschwurbelt erschienenen Uripanerinnen zusammen, die sich unter tatkräftiger Führung der Hestia II die gleichen Ziele auf ihre Fahnen geschrieben haben. Wie weit es ihr letztlich möglich sein wird, die Kundschaft, sprich den schlechthinnigen Konsumenten, ein Stückweit des Weges dabei mitzunehmen oder ob sich viele davon zu seichteren Stoffen zurücksehnen, wird die Zukunft weisen.

Problematisch dabei ist, dass die Ökonomie des Planeten in einer fragilen Übergangsphase steckt, noch eine Art Marktwirtschaft, in der Angebot und Nachfrage in einem reziproken Verhältnis stehen. Andererseits sind die Auswirkungen des großen Impakts durch die Khras-Invasion immer noch nicht abschließend zu erkennen, da immer noch ungeklärt ist, welche Konsumgüter vom galaktischen Imperium dauerhaft unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden, ob irgendwann ein Preis dafür zu zahlen sein wird und ob es schlau ist, etwa die Landwirtschaft gänzlich einzustellen, weil es ja synthetisch hergestellte Lebensmittel gibt. Offen bleibt je nach Beurteilung derartiger Fragen, welche Aktivitäten auch künftig einer Entlohnung bedürfen und ob die Existenzberechtigung vollständig von der Arbeit abgekoppelt sein sollte. Dies immer vor dem Hintergrund, den Außerweltlern am Ende doch nicht wirklich zu trauen und sich nicht ausschließlich von ihren Zuwendungen abhängig zu machen und es ist eine Frage gerade an die Religion als Wächterin über ethische Normen, wie das Funktionieren lebensnotwendiger Dienste sichergestellt werden kann, wenn niemand mehr des schnöden Mammons wegen sich zu ihrer Verrichtung hergeben muss.